Statt eines Mehrtagesmarsches unternahmen wir Tagestouren auf kleinen Inseln am Meer entlang, sodass der Aufenthalt trotz des verschwundenen Rucksacks sehr angenehm war. Da wir dieses Mal selbst ein Auto besaßen, konnten wir uns auch einmal bei anderen Trampern revanchieren und nun diese mitnehmen, statt selbst mitgenommen zu werden. Dieses Auto, das wir von einem Freund von Astrid liehen, machte schließlich aber das Wochenende auch wieder zu einem besonderen Erlebnis, als es einfach seinen Geist kurz vor der Greyhound Fracht-Station aufgab, an der mein Rucksack mit drei Tagen Verspätung schließlich eingetroffen war. Nun durfte ich endlich einmal nach fast zehn Wochen Fahrt mit dem eigenen Auto unterwegs sein und plötzlich ging das gute Gefährt kaputt. Daher war ich auf Greyhound kaum noch sauer, da wenigstens deren Busse nicht kaputt gehen. Das Problem mit meinem Rucksack war gelöst, doch nun hatten Astrid und ich ein neues Problem: wie das Auto in die Werkstatt kriegen, denn eine ADAC-Karte war sicherlich nutzlos?
Am nächsten Tag fuhren wir mit einem anderen Auto von Astrids Freundinnen wieder zu der Stelle, an welche wir das Auto am Tag zuvor in einer schweißtreibenden Aktion hingeschoben hatten. Wir waren beide überrascht, als es wieder ansprang, und so durfte ich zum ersten Mal auf dieser Reise selbst ein Transportmittel steuern. Doch es war leider nur ein kurzes Intermezzo, da die Karre natürlich auf dem Highway wieder verreckte. Astrid besorgte irgendwo ein Abschleppseil und so zuckelten wir hintereinander über den Highway der nächsten Werkstatt entgegen. Leider hatten wir beide keine Ahnung, dass das Abschleppen auf dem Highway in Kanada verboten war. Daher zeigte uns ein besonders »netter« Zeitgenosse bei der Polizei an, wie wir am nächsten Tag erfuhren. Aber es blieb nur bei einer Verwarnung an die Halter der beiden Autos, die wir gar nicht waren. Wir erfuhren es von Astrids Freundin, da sich die Polizei bei ihr als Halterin meldete.
Am nächsten Tag nahm ich von Astrid und ihren Freundinnen Abschied. Es wurde langsam Herbst und mich zog es nach Süden. Andria aus Boston, die wegen des Greyhound-Missgeschickes ihren Transatlantik-Flug stornieren musste, schrieb mir, dass es in Boston bereits schneite. Es herrschte wunderschönes Wetter und die Überfahrt von Sidney in British Columbia nach Anacortes in Washington war traumhaft schön. Wie durch ein Labyrinth ging es an Dutzenden von kleinen, mit Nadelbäumen bewaldeten Inseln vorbei. Im Hintergrund thronten die Schneeberge des Küstengebirges, und die wärmende Herbstsonne lud zum Erholen auf der Terrasse der Fähre ein. Kleine Dörfer, Klippen, Felsen und Strände zogen wie in einem Film an mir vorbei, bis ich im »Evergreen State«{57} Washington ankam.
Nicht nur die Fahne des Staates ist teilweise grün, sondern auch ein Großteil der Landschaft, die von Wäldern geprägt wird. Washington ist der nordwestlichste Bundesstaat der »48 States«.{58} Seine Nordgrenze zu Kanada ist der 49. Breitengrad, der zugleich die Grenze zwischen den USA und Kanada bis zum Oberen See rund 3.000 Kilometer weiter östlich bildet. Die künstliche Grenzziehung ist das Resultat eines Krieges. Der »Krieg von 1812« zwischen den USA und Kanada beziehungsweise England wurde durch wirtschaftliche Sanktionen, die England den USA auferlegte, ausgelöst, da die USA mit Frankreich kooperierten und die Beziehungen zwischen Frankreich und England alles andere als gut waren. Die Indianer kooperierten mit England und waren der eindeutige Verlierer dieses Krieges. Sie erhofften sich durch die Kooperation mit der Krone einen eigenen Staat, doch beim Friedensschluss 1814 gingen sie leer aus. In diesem Krieg schafften die Engländer etwas, was Al Quaida hoffentlich niemals erreichen wird. Sie besetzten die Hauptstadt Washington DC und brannten das Capitol sowie das Weiße Haus nieder. Ein Resultat dieses Krieges: England gab jegliche Besitzansprüche südlich des 49. Breitengrades auf. So entstand zunächst das »Oregon Territory«, aus dem später schließlich die Staaten Washington und Oregon gebildet wurden.
Von Anacortes fuhr ich mit dem Van-Service nach Mt. Vernon zur nächsten Greyhound-Station. In dem kleinen Bus ging es sehr vornehm zu. Ich wurde per Mikrofon über alles informiert: »We make a short break and then I will drive Mr. Kessel to the Greyhound Station.« Diese war gleichzeitig die lokale Spielhölle. Flipper und Computerspiele, die einem durch ihr Getöse den letzten Nerv raubten, machten das Warten auf den »Dog« zu einem Martyrium. Doch schließlich kam der Bus und gemeinsam mit meinem Rucksack reiste ich in die Metropole des Staates Washington nach Seattle. Die Stadt ist sicherlich seit dem Entstehen der Grunge-Music jedem bekannt. Nirvana und Pearl Jam startete in Seattle ihre Karriere. Doch auch Jimmy Hendrix stammt aus Washington und ist in Seattle begraben. Aber Seattle steht auch für Microsoft und Bill Gates,{59} der in der Stadt sein Computerbetriebssystem »DOS« und »Windows« entwickelte. Letztgenanntes war das einzige Produkt, das ich weltweit in jedem bereisten Land nutzen würde. Sicherlich ist der Leser auch bereits einmal mit einem Produkt aus Seattle geflogen. Die Boeing-Flugzeuge werden in einem Vorort von Seattle hergestellt. Die Starbucks-Kette starte in dieser Stadt ebenfalls ihre Weltkarriere. Scheinbar waren mittlerweile alle Internetcafés in Seattle bankrott gegangen, da ich an sämtlichen von mir aufgespürten Adressen nur noch ein leerstehendes Büro vorfand. Sogar die öffentliche Bücherei war vorübergehend verschwunden. Dafür durfte ich einen Großteil dieses Kapitels im »online.coffee« in Seattle praktisch gratis schreiben. Ich musste lediglich alle 20 Minuten einen Kaffee, Mokka, Cappuccino, Espresso oder eine heiße Schokolade bestellen.
In Seattle, dessen Name vom Duwamish-Häuptling Sealth stammt, bekam ich zunächst einen Citykoller. Ich wollte unbedingt etwas außerhalb der Stadt unternehmen, da mich mittlerweile amerikanische Großstädte nicht mehr in ihren Bann ziehen. Per Zufall erfuhr ich in meinem Hostel von Wasserfällen, die rund 40 Kilometer östlich von Seattle liegen und genau das Richtige für mich waren, da ich sie mit dem Bus erreichen konnte. Überhaupt war in Washington der Öffentliche Personennahverkehr wesentlich attraktiver als in anderen Teilen der USA. In der Innenstadt war die Benutzung sogar kostenlos. Überall erhielt ich Fahrpläne und fand sogar Bushaltestellen mit den entsprechenden Buslinien. Es existierten Busspuren, die auch von Autos benutzt werden duften, die mit mindestens zwei Insassen besetzt waren. Auch sonst war ich von dem Umweltbewusstsein des Staates überrascht. Natürlich wurde wildes Entsorgen genauso wie in Vermont mit Gefängnis bestraft, ebenso wie Schwarzfahren außerhalb der Innenstadt. Im Supermarkt wurde ich sogar gefragt, ob ich Papptüten, Plastiktüten oder überhaupt eine Tüte wollte. Normalerweise wird man in den USA mit Tüten überhäuft. Diese halten höchstens zwei Straßenblöcke, ehe sie zerreißen und hoffentlich in der nächsten Mülltonne landen.
In Seattle konnte ich einen alternativen Blick auf die Skyline werfen. Meist fährt man in Metropolen ein paar Sekunden in einem Hochhaus in den 100. Stock, ist ein Dutzend Dollars los und sieht wegen der Umweltverschmutzung oder wegen des Dunstes doch nichts. Dieses Mal konnte ich in einem Park kostenlos einen Wasserturm hinaufklettern, den Sonnenuntergang über der nebelverhangenen Bucht genießen und dabei im fitness-bewussten Amerika sogar noch ein paar Kalorien verbraten. Bei dem vielen Kaffee, den ich während der Arbeit an diesem Kapitel genießen durfte, muss ich jetzt allerdings auf das Dringendste auf Toilette. Daher schließe ich dieses Kapitel nun umgehend ab.
Goldener Herbst im sonnigen Westen
Etappe: Von Seattle WA, USA 48° Nord 122° West (GMT-7) nach San Diego CA, USA 33° Nord 117° West (GMT-8): 2.439 km – Total 25.221 km
San Diego, 31. Oktober 2002
Nachdem ich in Seattle meinen Citykoller mit dem Besuch der Snoqualmie Falls überwunden hatte, war ich nun an der Geschichte dieser Stadt interessiert. Daher begab ich mich auf eine Tour in die Unterwelt der Stadt. Die kurze, aber ziemlich aufregende Entwicklung Seattles war das Interessanteste. Die ersten Europäer, die sich in der Region des heutigen Seattle niederließen, waren Pioniere, die versuchten, mit dem Holzhandel reich zu werden. Die Gegend war mit riesigen Bäumen übersät und daher für Holzfäller paradiesisch. Weniger ideal war die Lage knapp über dem Meeresspiegel, der Abhängigkeit von den Gezeiten und der schlammige Boden. Nachdem die ersten Bäume 1851 gefällt waren, wurde die erste dampfbetriebene Sägemühle im ganzen so genannten »Wilden Westen« dort aufgestellt. Das anfallende Sägemehl wurde als Baumaterial zum Auslegen auf dem Baugrund