19 Tage. Andy Klein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andy Klein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741811227
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und da habe ich das jedes Mal gesehen. Keiner betritt oder verlässt das Haus außer ihm.« Lucas war enttäuscht. Er hatte sich innerlich schon auf eine Skandalgeschichte eingestellt und stattdessen kam Mimi mit einer Geschichte, die sie wahrscheinlich nur geträumt hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass Gab ihm nicht ganz geheuer war, aber diese Geschichte konnte er nicht wirklich ernst nehmen. Selbst wenn es so wäre konnte Mimi ja unmöglich 24 Stunden am Tag am Fenster stehen und immer genauestens beobachten, wer dort rein oder raus ging. Andererseits war er neu in der Stadt, wen sollte er hier schon kennen? Aber er schien auch lebenslustig zu sein, vielleicht hatte er sich ja hier eine Drittfrau angelacht.

       »Na, dann werde ich das auch mal beobachten.«, sagte er, um die alte Dame etwas zu beruhigen.

       »Du bist schon ein ganz lieber Junge…«, sagte Mimi. »…Warte, ich habe von gestern noch etwas Nudelauflauf übrig, den bringe ich dir gleich mal rüber.«

      Lucas freute sich darüber, denn er war von der Gartenarbeit hungrig und vor allen Dingen konnte er etwas Frisches essen, statt eines der Mikrowellengerichte. Mimi lief schnell hinüber und drückte ihm anschließend eine Auflaufform in die Hand. Er bedankte sich mit einem Küsschen bei ihr, die gleich darauf auch wieder schnell zurück lief. Lucas ging ins Haus und stellte den Auflauf in den Backofen, um ihn aufzuwärmen. In der Zwischenzeit zog er sein verschwitztes T-Shirt aus und erfrischte sich etwas im Bad. Der Auflauf war schlichtweg der Hammer, wie alles, was Mimi in ihrer Küche fabrizierte und so aß er die noch recht üppige Portion ganz auf. Gut gesättigt ging er ins Wohnzimmer um sein angekündigtes Nickerchen zu machen. Frische Luft, Gartenarbeit und ein gutes Essen machen aber auch ganz schön müde. Er schaltete den Fernseher an und schlief mit der Gerichtssendung Texas Justice im Hintergrund ein.

      Als er wieder erwachte war es bereits 18.00 Uhr. Der Tag war wirklich außergewöhnlich entspannend. Er setzte sich auf und überlegte, was er mit der restlichen Zeit, bis zu seiner Schicht anstellen sollte. Er hatte so dermaßen gut geschlafen, er hätte Bäume ausreißen können. Also fasste er den Entschluss jetzt doch mal in das Schlafzimmer seiner Großmutter zu gehen. Langsam ging er die Treppe hinauf, blieb vor der Tür stehen und atmete tief durch. Vorsichtig öffnete er die Tür und ging hinein. Das ganze Zimmer war übersät mit Familienfotos aus glücklichen Tagen. Er sah das Hochzeitsbild seiner Großmutter und auch das seiner Mutter. Das ganze Leben seiner Familie war an diesen vier Wänden dokumentiert. Er kannte jedes einzelne Bild. Einige davon hatte er als kleiner Junge selbst fotografiert und auch zwei seiner selbst gemalten Kunstwerke aus seiner Kindheit, zierten die Wände. Lucas empfand plötzlich Freude diese Bilder zu sehen, denn sie erinnerten ihn an eine unbeschwerte Kindheit und an eine großartige Frau. Er verspürte Lust noch mehr Bilder anzuschauen und nahm eines der großen Fotoalben nach dem anderen aus dem Wandregal, das sich über der Kommode befand. Zuletzt nahm er das Album, auf dem in großen Buchstaben „Lucas“ stand in die Hand. Er schaute sich jedes Foto ganz genau an und ließ die einzelnen Situationen in seinen Gedanken Revue passieren.

      Oft huschte ihm ein Grinsen übers Gesicht, denn meistens machte er auf den Bildern Faxen. Auf einem Bild, da waren sie auf dem Jahrmarkt. Er konnte sich auch noch ganz genau daran erinnern, schließlich bekam er dort das erste Mal in seinem Leben leuchtend blaue Zuckerwatte. Es entzog sich auch nicht seiner Erinnerung, dass sein Vater dieses Foto gemacht hatte. Er stand vor seiner Großmutter, seiner Mutter und seinem Großvater, an den er sich aber nicht mehr so richtig erinnern konnte. Das war auch das letzte gemeinsame Foto mit seinem Großvater, denn kurze Zeit später verstarb er an einem Herzinfarkt. Die Zuckerwatte war doppelt so groß wie sein Kopf. Lucas lächelte, denn das war wirklich ein wunderschöner Tag. Es war einer der seltenen Tage, an denen die ganze Familie mal etwas zusammen unternahm, dachte er. Doch plötzlich stockte ihm der Atem. An seinem Verstand zweifelnd rieb er sich die Augen. Er konnte einfach nicht glauben, was er auf dem Foto im Hintergrund sah. Links hinter seiner Großmutter, ein Stückchen weiter im Hintergrund, da stand SIE. Lucas warf das aufgeschlagene Album auf das Bett, rannte hinunter in die Küche und holte die Riesenlupe seiner Großmutter aus der Krims-Krams Schublade. In Windeseile spurtete er die Treppen wieder hinauf, nahm das Album und schaute sich das Bild unter der Lupe an. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Sie war es, die alte Frau aus dem Bus und dieselbe alte Frau, die er im Krankenhaus sah. Sein Verstand sagte ihm, das kann nicht sein. Diese Frau musste eine andere sein, aber dieses Lächeln im Gesicht der Frau…

      Lucas wurde kreidebleich. Diese Frau sah im Bus schon so aus, als wäre sie weit über 80 Jahre alt und auf dem Foto wirkte sie keinen einzigen Tag jünger. Das konnte einfach nicht sein. Er starrte auf das Foto und es gab für ihn nicht den geringsten Zweifel. Das war sie und sie trug sogar das selbe Kleid. Er legte das Album und die Lupe beiseite und ging hinunter in die Küche. Er war verwirrt und hätte am liebsten einen Schnaps getrunken, doch er schaute auf die Uhr. Mittlerweile war es 21.20 Uhr. Auf seiner Bilderreise hatte er völlig die Zeit vergessen. In dem Wissen, dass er bald zur Arbeit fahren musste, zündete er sich lediglich eine Zigarette an und ging ins Wohnzimmer. Er schlug das Tagebuch auf und durchsuchte es nach einem neuen Eintrag. Er hoffte dort vielleicht eine Erklärung zu finden. Bestimmt würde dort stehen, dass er sich das nur einbildete. Aber da war nichts. Kein neuer Eintrag. Enttäuscht nahm er das Tagebuch, stopfte es in seine Jackentasche und zog diese auch sogleich an. Lucas löschte das Licht, ging zu seinem Wagen und stieg ein. Wer zum Teufel war diese Frau? Er war völlig durcheinander.

      So wie es einem Menschen geht, der verzweifelt versucht etwas zu verstehen, was absolut unmöglich erscheint.

      Als er am Krankenhaus ankam, konnte er sich noch nicht einmal an die Fahrt dorthin erinnern, so überfordert war er. Warum stand über diese alte Frau, die ihn zu verfolgen schien, nichts in dem Tagebuch. Er parkte den Wagen, stieg aus und ging hinein. Ein stechender Kopfschmerz machte sich langsam breit. Eigentlich hatte er so gut wie nie Kopfschmerzen, außer er hatte einen ganz üblen Kater. Aber heute bat er das erste Mal Jenny um eine Tablette. Er wusste, dass sie immer welche dabei hatte.

       »Geht’s dir nicht gut?«, fragte sie besorgt, während sie ihm die Tablette und ein Glas Wasser reichte.

       »Doch, doch, ich hab nur etwas Kopfschmerzen.«, antwortete er.

       »Hey, das beste Team der Welt ist wieder beisammen...« Shawn stieß die Tür auf und warf seine Tasche vor seinen Spind. »…He, was ist los, Alter? Du siehst aus, als hättest du drei Tage durchgefeiert…«, sagte Shawn, legte seinen Arm um Lucas Schultern und schaute Jenny an. »…Na, mit dir wollte Laura wohl auch nicht mehr zusammenarbeiten, was!«

       »Ja, anscheinend.«, antwortete Jenny, die gleich darauf genervt den Raum verließ.

       »Was hat die denn?«, fragte Shawn.

       »Ich weiß auch nicht, muss wohl an dir liegen.«, sagte Lucas.

       »Das verstehe ich nicht, ich bin doch ein echter Frauentyp, oder?«

      Ein Lächeln huschte über Lucas Gesicht. Einen Moment lang überlegte er, ob er Shawn von seinen Erlebnissen erzählen sollte, aber es blieb nur bei der Überlegung. Die Pflicht rief und so, wie er es versprochen hatte, schaute er zuerst bei Miss Keane herein. Miss Keane war schon fast eingenickt, öffnete aber die Augen, als sie seine Schritte wahrnahm.

       »Oh - Lucas, schön dass wir uns noch mal sehen.«

       »Wie geht es ihnen denn heute?«

      Er nahm ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

       »Wenn ich sie sehe geht es mir immer gut.«

      Er lächelte und nahm das Krankenblatt, das am Fußende des Bettes außen in einer Halterung hing.

       »Morgen früh um sechs ist ja ihre Operation. Denken sie daran, dass sie heute nichts mehr trinken und essen.«

       »Das weiß ich doch, mein Junge.«, sagte Miss Keane und er lächelte.

      Wem sagte er das auch? Diese Frau hatte schließlich schon mehr Operationen hinter sich gebracht, als jeder andere, den er jemals in diesem Krankenhaus traf.

       »Sie gefallen mir heute aber gar nicht, Lucas, sie sehen so blass aus.«

       »Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen, die gehen aber sicher gleich