„Genau“, stimmt Laura zu.
Kurz nach Wiederanpfiff klingelt auch Lauras Handy. Sie sieht auf dem Display, dass Charly sie anruft und zeigt es ihren beiden Kolleginnen. Dann lässt sie das Telefon wieder in ihrer Tasche verschwinden. Das Fußballspiel wird jetzt lebendiger. Corinthinas macht jetzt mehr Druck und versucht verstärkt in die Spitze zu flanken. Diese Versuche bleiben vorerst erfolglos. In der Zwischenzeit bekommen die drei Polizistinnen fast gleichzeitig jeweils eine SMS von Charly mit der einfachen, kurzen Nachricht:
„Bitte rufe mich schnellstmöglich an, Charly!“ Die Frauen beschließen, dass sie ihn nach dem Spiel anrufen werden. Bis zur 35. Minute verflacht das Spiel wieder. Dann passiert fast die gleiche Szene im Flamengo-Stafraum, die im Corinthinas-Strafraum zum Elfmeter führte. Als der Stürmer von Corinthians fällt, springt das ganze Stadion auf und schreit. Der Schiedsrichter läuft wieder Richtung Strafraum, doch diesmal bleibt sein Pfiff aus. Er zeigt dem Corinthians-Stürmer an, dass er aufstehen soll. Wieder geht ein Pfeifkonzert durchs Stadion. Der Corinthians-Stürmer protestiert lautstark beim Schiedsrichter und bekommt dafür die gelbe Karte. Bis zur Halbzeit ist das Spiel jetzt sehr zerfahren. Flamengo verteidigt fast mit allen Spielern, und Corinthians findet kein echtes Mittel, um das Abwehr Bollwerk zu überwinden. Von den Rängen wird jeder Ballbesitz von Flamengo und jede Entscheidung des Schiedrichters ausgepfiffen. Die Lage beruhigt sich als die Halbzeit beendet ist, und die Mannschaften in die Kabine gehen.
„Ich gehe und hole mir etwas zu trinken. Soll ich Euch auch ein Getränk mitbringen?“ fragt Laura ihre Kolleginnen. Die beiden anderen überlegen.
„Ich geb' eine Runde aus“, ergänzt Laura.
„Dann ein Guarana, bitte“, antwortet Janaina.
„Ich nehme auch ein Guarana, bitte“, sagt Naomi.
„Ok, ich bin gleich zurück. Ich hoffe, dass ich nicht zu lang anstehen muss und zum Beginn der zweiten Halbzeit wieder hier bin“, merkt Laura an.
Sie steht auf und geht durch die Sitzreihe. Über die Treppe verlässt sie die Tribüne und den Innenraum des Stadions. Kurz bevor sie den Getränkestand erreicht, sieht sie ein wenig abseits stehend einen etwa 10-jährigen Jungen mit zwei etwa 20-jährigen Frauen heftigst diskutierend. Der Junge, hellhäutig, 1,40 m groß, ist mit einem Trikot von Flamengo bekleidet. Die beiden Frauen haben die selbe Größe wie Laura. Die eine Mullatin, trägt ein weißes ärmelloses, bauchfrei geschnittenes Corinthians-Shirt und kurze Jeanshose, und die andere Afrobrasilianerin trägt ein gelbes Bikini-Top und schwarze Shorts mit Corinthians-Wappen aufgenäht. Laura schaut sich die Auseinandersetzung erst von weitem an. Als die Frauen anfangen den Jungen zu schubsen, geht sie auf das Trio zu. Laura ist heute mit einer langen blauen Jeanshose und einem einfarbigen grünen langärmligen Shirt bekleidet, so dass sie aufgrund der Kleidung keinem der beiden Fanlager zugeordnet werden kann.
„Was ist denn da los?“ ruft Laura von weitem.
Die beiden Frauen ignorieren Laura, da stellt sie sich mitten in das Handgemenge und fragt wiederholt:
„Was ist denn hier los?“
„Hau ab!“ sagt die Mullatin befehlend zu Laura.
„Bist Du ein Copacabana-Strandflitchen, eine Ipanema-Hure oder auch ein beschissener Flamengo-Fan?“ fragt die Afrobrasilianerin.
„Ich bin auch Corinthianer, aber ich vergreife mich nicht an kleinen Kindern wie Ihr“, antwortet Laura.
„Was willst Du Schlampe?“ pöbelt die Mulattin.
„Dann zeig mal, wie Du Dich an Erwachsenen vergreifst“, die Afrobrasilianerin fängt an Laura zu schubsen.
„Genau“, stimmt die Mulattin ein und versucht Laura mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen, aber Laura fängt den Schlag ab und greift den Arm der Angreiferin. Mit einer geschickten Körperwendung dreht sie den Arm ihrer Gegnerin auf den Rücken. Dann schiebt sie sie frontal gegen die Afrobrasilianerin. Beide fallen leicht nach hinten, aber sie können sich noch gerade auf ihren Beinen halten.
„Geh' schnell weg. Ich übernehme die beiden“, sagt Laura zu dem kleinen Jungen, und dieser rennt schnell in Richtung Tribüne.
„Jetzt werden wir sehen, wer wen übernimmt“, sagt die Afrobrasilianerin, als sie sich wieder aufgerichtet hat.
Die beiden verteilen sich, so dass eine rechts und die andere links von Laura stehen. Laura versucht beide in ihrem Augenwinkel zu halten. Da greift die Afrobrasilianerin an und packt Laura mit beiden Händen am Arm. Laura zieht ihren Arm an sich ran, dann reißt sie mit einem Ruck die Hände der Angreiferin von ihrem Arm und mit ihrem Ellbogen gibt sie der Gegnerin einen Schlag ins Gesicht. Diese geht in die Knie und hält sich die Hände vors Gesicht. Zur gleichen Zeit springt die Mulattin von der anderen Seite auf Laura und versucht sie mit einem Griff um den Hals zu würgen. Laura bückt sich leicht, packt die Gegnerin an den Schultern und wirft sie mit viel Kraft zur Seite, dass diese mit dem Rücken auf den Boden fällt. Die beiden Angreiferinnen brauchen einige Sekunden, um wieder auf die Beine zu kommen.
„Das wird Dir noch leid tun“, sagt die Mulattin und steht wieder zum Angriff bereit.
„Wir machen Dich fertig“, ergänzt die Afrobrasilianerin und ist ebenfalls wieder in Kampfstellung.
„Kommt doch, wenn ihr noch nicht genug habt“, antwortet Laura.
Sie springen beide parallel auf Laura, doch diese kann beide abwehren und greift sie sich in den Schwitzkasten. Die Angreiferinnen versuchen sich zu befreien, aber Laura hat beide sicher im Griff. Die Gegnerinnen schimpfen und versuchen verkrampft dem Schwitzkasten zu entkommen. Nach einer halben Minute geben sie auf.
„Hört genau zu“, sagt Laura zu den unterlegenen. „Ich bin von der Polizei. Ich lasse Euch gleich los, wenn Ihr dann nicht innerhalb von wenigen Sekunden verschwindet, dann nehme ich Euch fest und stecke Euch für einige Stunden in den Knast. Ist das klar?“
Die beiden Angreiferinnen akzeptieren das Angebot. Laura lässt sie los, und die beiden Frauen rennen wütend in Richtung Tribüne. Laura hat die Getränke ganz vergessen und geht ebenfalls zurück zur Tribüne, denn die zweite Halbzeit wird gleich wieder angepfiffen. Als sie am Platz ankommt und ihre beiden Kolleginnen sieht, erinnert sie sich wieder an die Getränke und entschuldigt sich:
„Es tut mir leid, dass ich keine Getränke mitgebracht habe. Ich hatte einen Notfalleinsatz, und da habe ich alles andere vergessen.“
„Was? Ein Notfalleinsatz?“ fragt Naomi.
Laura schildert stolz ihren Kolleginnen, wie sie den kleinen Jungen gerettet und die beiden Frauen in Flucht geschlagen hat. Sie lässt kein Detail aus. Die beiden anderen hören interessiert zu und lachen am Ende, als sie erzählt wie die beiden Angreiferinnen geflohen sind.
Zur gleichen Zeit betritt Charly sein kleines Zweizimmer-Apartment in Barra Funda. Er hat wiedermal den ganzen Tag im Büro verbracht. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren ist er noch vertiefter in seiner Arbeit als zuvor, obwohl sein überhöhter Arbeitseinsatz der Hauptgrund für das Scheitern seiner Ehe war. Zuerst geht er in die Küche holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzt sich aufs Sofa und zündet sich eine Zigarette an. Der Bier- und Zigarettenkonsum hat nach seiner Scheidung auch extrem zugenommen. Dann schaltet er den Fernseher an. Er zappt durch die Kanäle bis er bei der Fußballübertragung des Spiels zwischen Corinthians und Flamengo hängen bleibt. Jetzt ist ihm klar, warum Janaina, Laura und Naomi nicht auf seine Anrufe und seine SMSs reagieren. Er ärgert sich erstmal, als er aber sieht das Corinthians 0:1 zurückliegt, wendet sich der Ärger in Freude.
Auf dem Spielfeld wird die Mannschaft von Corinthians immer dominanter. Sie spielen sich ein paar Chancen heraus, aber scheitern immer am sicheren Schlussmann von Flamengo. In der 74. Minute kommt eine Flanke von außen halbhoch in den Strafraum von Flamengo. Ein Corinthians-Stürmer kommt am Elfmeterpunkt per Flugkopfball vor den Verteidigern von Flamengo an den Ball und köpft ihn ins linke obere Eck. Diesmal ist der Torwart chancenlos.
„Tor, Tor, Tor für Corinthians“, schreit der Fernsehreporter.
Charly springt vom Sofa auf und flucht: