„Klares Abseits“, sagt Charly triumphierend auf dem Sofa sitzend, obwohl er in der Wiederholung der Szene im Fernsehen sieht, dass es kein Abseits war, sondern dass es eigentlich ein regulärer Treffer für Coritnhians hätte sein müssen. Die drei Polizistinnen würden am liebsten auf den Platz stürmen und sich den Schiedsrichter und den Linienrichter vornehmen. Die letzten Minuten vergehen ohne besondere Vorkommnisse. Als die Partie beendet ist, geht ein gellendes Pfeifkonzert durchs Stadion. Der Schiedsrichter und die Linienrichter sprinten im Eiltempo in die Kabinen. Einige Fans von Corinthians versuchen auf den Platz zu stürmen, aber die Ordner können sie gerade noch zurückhalten. Die drei Frauen verlassen diskutierend die Tribüne, bis Janiana einwirft:
„Themawechsel, lasst uns jetzt das Thema wechseln. Wir können sowieso nichts mehr ändern. Wer ruft Charly an?“
Die beiden anderen schauen sich fragend an.
„Ich übernehme das“, meldet sich Laura zuerst. „Wenn Ihr nichts dagegen habt.“
Janainaund Naomi nicken ihr zu. Sie holt ihr Handy hervor und wählt Charlys Nummer. Charly sitzt noch auf dem Sofa und schaut die Interviews zum Spiel als sein Handy, das auf dem Tische vor ihm liegt, klingelt. Er greift sich das Gerät und sieht Lauras Nummer im Display.
„Laura, endlich ruft Ihr mich an. Weißt Du, wo die anderen beiden sind ?“
„Wir waren zusammen im Stadion“, antwortet Laura. „Leider haben wir erst jetzt gesehen, dass Du uns angerufen und eine SMS geschickt hast.“
„Das könnt Ihr mir nicht erzählen. Darüber wird noch zu reden sein. Ihr wolltet Euch nur nicht, während Eures Fußballspiels stören lassen.“
„Wir haben aber alle heute frei.“
„Eure Freizeit endet immer, wenn ich anrufe!!!“ Charly erwartet von seinen Mitarbeitern die gleiche Arbeitseinstellung wie er, deshalb kommt es häufig zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Janaina, Laura und Naomi.
„Charly, fang nicht schon wieder so an. Du kennst unsere Meinung zu diesem Thema. Wir haben auch noch ein Leben außerhalb der Polizei.“
„Es gibt neue Entwicklungen im Mordfall Mia. Wir haben das Bild des Opfers im Fernsehen und in der Presse gezeigt. Zwei interessante Hinweise haben uns erreicht. Einmal sagt eine Frau, die in Santana wohnt, dass ihr Nachbar ein Geliebter des Opfers war, und dann gibt es einen anderen Hinweis von einem Mann, der sagt, dass das Opfer eine Prostituierte sein könnte.“
„Den Hinweis auf Prostitution bekommen wir doch immer, wenn wir ein Bild von einer Frau veröffentlichen. Dann rufen immer Männer an, die die gesuchte in der Rua Augusta gesehen haben wollen. Am Ende stellt sich heraus, dass die Frau nur in der Fantasie dieser Männer dort gestanden hat.“
„Wir müssen der Sache trotzdem nachgehen.“
„Ich würde eher versuchen diesen Pedro in Capão Redondo ausfindig zu machen, weil der ist unsere heißeste Spur.“
„Ok Laura, dann fahr Du nach Capão Redondo und suche diesen Pedro. Janaina kann die Frau in Santana verhören, und Naomi trifft sich mit dem Mann, der meint, dass Mia eine Prostituierte sei. Er hat uns nur eine Handynummer hinterlassen und will sich irgendwo in Pinheiros mit jemandem von uns treffen. Ich schicke Naomi dessen Nummer per SMS, und an Janaina schicke ich die Adresse in Santana. Außerdem schicke ich Euch allen ein Foto per Mail auf Eure Handys. Wir treffen uns dann gemeinsam wie immer morgen früh im Büro. Ich will, dass jeder von Euch genau berichtet, wie die Verhöre gelaufen sind. Erkläre alles den beiden anderen. Wenn es noch Fragen gibt, könnt Ihr mich gern anrufen.“
Er beendet das Telefongespräch. Laura erklärt Janaina und Naomi die Anweisungen von Charly. Nach kurzer Zeit kommen auch schon die beiden SMSs auf den Handys von Janaina und Naomi an. Laura und Janaina nehmen ihre Autos, um zum Einsatzort zu kommen. Janaina muss erst mit der Metro nach Liberdade fahren, wo sie ihren Wagen geparkt hat. Naomi nimmt ihr Handy und ruft die Nummer an, die ihr Charly zugeschickt hat.
„Hallo“, meldet sich ein Mann am anderen Ende.
„Polizei, Mordkommision IV, Naomi Watanabe mein Name. Mit wem spreche ich?“
„Mein Name spielt keine Rolle. Ich möchte anonym bleiben, das habe ich mit Ihren Kollegen vereinbart.“
„Ok, Sie wollten sich in Pinheiros treffen ?“
„Ja, es gibt da eine kleine Bar an der Ecke Rua Cardeal Arcoverde und Rua João Moura. Was halten Sie davon?“
„Klingt gut. Wann?“
„Ich habe ab jetzt Zeit.“
„Ich bin in gut 30 Minuten dort.“
Sie beenden das Telefonat. Naomi geht zu Fuß zum Beginn der Rua Cardeal Arcoverde. Dort nimmt sie einen Omnibus: Pünktlich nach 30 Minuten erreicht sie den Treffpunkt. Sie betritt die Bar. Es befinden sich keine Gäste an den Tischen. Dann kommt ein ungefähr 30-jähriger schlanker Mann, der an der Theke gesessen hat, auf sie zu und spricht sie an:
„Sind Sie Frau Watanabe von der Polizei?“
„Genau, und Sie sind Herr Anonym?“
„Ja, das mit dem Namen hatte ich wie gesagt schon mit ihren Kollegen geklärt. Lassen Sie uns dort ins Hinterzimmer gehen. Da sind wir ungestört.“ Der Mann zeigt auf eine Tür am anderen Ende des Raums neben der Theke. Sie gehen in das Hinterzimmer, dort befindet sich ein Tisch mit acht Stühlen und einem Fernseher, der ausgeschaltet ist. Dann setzen sie sich an den Tisch und der Mann fragt:
„Was wollen Sie trinken?“
„Einen Whiskey, ich bin ja nicht offiziell im Dienst.“
Der Mann bestellt zwei Whiskeys beim Barkeeper. Nach kurzem Smalltalk bringt der Barkeeper den beiden ihre Whiskeys. Als der Barkeeper den Raum verlässt, schließt der Mann die Tür des Hinterzimmers.
„So, jetzt erzählen Sie mal, was Sie über Mia unser Mordopfer wissen!“ fordert Naomi den Mann auf und schaut ihm tief in die Augen.
„Mia? Mia kenne ich nicht. Die Frau, die nennt sich Athena, aber das wird wohl nicht ihr richtiger Name sein. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Manchmal wenn ich abends gestresst aus dem Büro komme, dann fahre ich zur Rua Augusta. Durch den Kontakt mit jüngeren Frauen baut sich mein Stress ab.“
„Stress abbauen? Sie brauchen mir keine Details zu zählen. Ich habe schon verstanden. Erzählen Sie, was Sie über Mia bzw. Athena wissen!“
„Eigentlich weiß ich nicht viel über sie. Ich war viermal bei ihr, wir haben aber nie über ihr Leben oder ihre Person geredet.“
„Und Sie sind sich sicher, dass Mia und Athena die gleiche Person ist? Schauen Sie sich das Foto nochmal an, bitte!“ Naomi holt ihr Handy hervor und zeigt dem Mann das Foto, was Charly ihr zugeschickt hat.
„100-prozentig, das ist Athena !!!“
„Das war's schon, was ich an Fragen zu diesem Thema habe.“
Naomi steht auf, geht zur Tür und versperrt das Türschloss mit dem Schlüssel, der darin steckt. Sie dreht sich um, tänzelt erotisch auf den Mann zu, zieht ihr Shirt aus, setzt sich auf dessen Schoß und sagt mit lüsternderer Stimme:
„Ich glaube, Sie sind gestresst, und diesen Stress müssen wir jetzt abbauen!“
„Das glaube ich auch“, antwortet der Mann überrascht und erregt.
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