Auch Nicolas sollte heute endlich zum Knappen des Herrn von Auenstein erhoben werden.
Vor zwei Monaten war er vierzehn Jahre geworden und damit älter als die meisten anderen Knaben. Endlich endete seine Zeit als Page.
Nicolas freute sich darauf, in den Kreis der Kämpfer aufgenommen zu werden. Zusammen mit ihm warteten fünfzehn andere aufgeregte Knaben, am Abend im Dom das traditionelle, vom Bischof persönlich gesegnete, Kurzschwert zu erhalten, unter ihnen sein neuer Freund Modorok. Da beide keine Anverwandten besaßen, war es die alte Markgräfin Hedwig gewesen, die sich der Jungen angenommen hatte.
Modorok war nach dem Tode seines Bruders, einem Dienstmann Dietrichs in dessen Burg Weißenfels, vor einem Jahr nach Meißen gekommen. Er besaß, genauso wie Nicolas, niemanden auf der Welt, der sich um ihn scherte, und so hatte Hedwig auch ihn unter ihre Fittiche genommen.
Der Dom war erhellt von einem Meer teurer Kerzen, die der Markgraf eigens für diesen Anlass gestiftet hatte. Die Jungen betraten in einer Reihe hintereinander das Gotteshaus und schritten langsam vor den Altar. Hier knieten sie nieder, während der Bischof sie segnete. Die Kurzschwerter lagen auf einem bereitgestellten Tisch, auch hier hielt der Geistliche seine Hand segnend darüber. Dann traten die Jungen einzeln vor, um das Schwert zusammen mit einem eisernen Helm und einer Streitaxt oder Keule zu empfangen. Im Anschluss daran begaben sie sich zu ihren Familien, die der Zeremonie von den Kirchenbänken aus gespannt zusahen. Nicolas und Modorok gingen stolz zu ihren Sitzen neben der alten Markgräfin. Auch die Auensteiner hatten dort Platz nehmen dürfen, worüber sich Nicolas sehr freute, da es jetzt die einzige Familie war, die er die seine nennen konnte.
Im Anschluss an die Zeremonie las der Bischof eine Messe, die bis weit nach Mitternacht dauerte, denn in dieser Nacht feierte man die Geburt des Herrn.
Kapitel 4
Burg Meißen
März 1194
Die Sonne sandte ihre späten Strahlen durch das wirre Geäst der kahlen Bäume, die das Ufer gegenüber der Burg säumten. Auf den Steinen unweit der Brücke hockte eine zusammengesunkene Gestalt und starrte reglos auf den Fluss. Von seinem Fenster aus konnte Nicolas genau sehen, wie sich der Einsame hin und wieder mit dem Ärmel über das Gesicht wischte. Beim genaueren Hinschauen fielen ihm die roten ausgeblichenen Beinkleider auf, die unter der braunen Tunika hervorlugten. Trotz der Entfernung wusste Nicolas, wer dort am Ufer saß. Einem Impuls folgend, wollte er sich vom Fenster abwenden, um hinunter zu eilen und seinem Freund Gesellschaft zu leisten. Da sah er aus dem Schatten der Bäume heraus die unverkennbare Gestalt Falks von Schellenberg auf den Sitzenden zugehen. Nicolas runzelte die Stirn. Was wollte der Schellenberger von Modorok? Er schwankte hin und her, im Zweifel, ob er zu dessen Unterstützung eilen oder aber die Situation vom Fenster aus beobachten sollte. Von hier aus konnte er nicht hören, was die beiden miteinander sprachen, aber er sah, dass Falk heftig gestikulierte und schließlich sogar mit dem Stiefel gegen Modoroks Bein trat, was diesem allerdings keinerlei Reaktion entlockte. Modorok war groß gewachsen für sein Alter. Und schon jetzt zeichnete sich ab, dass er einmal sehr kräftig werden würde. Sein dunkelblondes Haar, das ihm in Wellen auf die Schultern fiel, wirkte immer etwas zerzaust. Seine schönen Augen, in denen sich oft eine große Traurigkeit widerspiegelte, die aus den Tiefen seiner Seele zu kommen schien, waren grün wie die großen Wälder seiner Heimat.
Jetzt hatte Nicolas genug. Da es bitterkalt draußen war, schnappte er sich seinen Umhang, der auf einem Stuhl lag und rannte die Stufen des Turmes hinunter. Die kleine Tür am Fuße der Treppe ließ sich nur schwer öffnen, da sie vom Alter und der feuchten Witterung verzogen war. Ungeduldig warf sich Nicolas mit Gewalt dagegen, einmal, zweimal. Endlich gab sie nach und Nicolas wurde zusammen mit der Tür schwungvoll nach draußen geworfen. Sich krampfhaft an den Türknauf klammernd, fing er sich aber sogleich wieder, straffte seinen Rücken und rannte über den Hof auf das Tor zu. Doch er kam nicht allzu weit, die Markgräfin hatte beschlossen, noch vor der Abenddämmerung mit ihren Hofdamen dem Dom einen Besuch abzustatten. Nicolas fluchte leise, musste er jetzt vor den hohen Damen halten, ihnen seine Referenz erweisen und warten, bis sie weiter ihres Weges gingen. Doch die Markgräfin hatte andere Pläne. Zu selten kam sie aus ihrer Kemenate in den Hof, und da sie der Meinung war, immer und überall genau Bescheid wissen zu müssen, darüber, was vor sich ging, warf sie ihren durchdringenden Blick auf Nicolas. Dieser schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich von dem Schrecken zu erholen, der ihn durchfuhr, als die Gräfin ihn fixierte. Zu grausam waren die Erinnerungen, die ihm der Anblick dieser Frau bescherte. Der Blick aus ihren stechenden grauen Augen, welche gleichsam über ihrer viel zu langen spitzen Nase zu schweben schienen, kam ihm einem Blick der Medusa gleich. Der verkniffene Mund der Markgräfin verzog sich zu einem nahezu sardonischen Lächeln. Nicolas schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Bilder zu verscheuchen. Jetzt schaute sie nur noch verächtlich drein, was ihn aber keineswegs beruhigte. Erst kürzlich war sie der Meinung gewesen, Nicolas habe es ihr gegenüber an der entsprechenden Demut fehlen lassen. Im Ergebnis dieser Anschuldigung war sein alter Lehrmeister Tassilo von Hohnberg gezwungen, ihm im Beisein der anderen Knappen mit der Peitsche zehn kräftige Hiebe zu erteilen. Dann musste er die ganze Nacht am Pranger verbringen, wie ein gemeiner Dieb. Erst am Morgen war Falk von Schellenberg gekommen und hatte ihm die Fesseln gelöst, nicht ohne ein hämisches Grinsen und mit einem eindeutigen Ausdruck von Genugtuung in den Augen.
Nicolas beschloss, seinen Blick zu senken und wartete mit größter Unterwürfigkeit darauf, dass die Gräfin ihn ansprach.
„Was spionierst du hier herum, Bursche? Hast du nichts Besseres zu tun, als hochedle Damen zu erschrecken oder gar niederzurennen? Ich werde ein Wort mit deinem Lehrmeister sprechen, damit er dir Respekt beibringt“, keifte sie ihm entgegen. Nicolas ballte die Fäuste unter seinem Umhang. Noch einmal ließ er sich nicht demütigen, nicht von dieser Frau und auch von keiner anderen. Zu viel hatte er schon gelitten an diesem Hof Markgraf Albrechts. Ein Jahr noch, dann war seine Ausbildung beendet, dann könnte er fortgehen von hier, auch wenn dies Armut und den Verlust seines Lehens bedeuten würde. Aber letzteres hatte der Markgraf ja sowieso schon eingezogen, obwohl er immer behauptete, er würde es nur für Nicolas verwalten.
Doch schien das Glück diesmal auf seiner Seite. Es erschien in Gestalt Dedo von Wißlingens, der auf der Suche nach der Gräfin war.
„Hochedle Frau, der Markgraf schickt mich. Es ist ein Bote eingetroffen mit allerwichtigsten Nachrichten. Der Markgraf sagt, Ihr sollt Eure Andacht verschieben, er müsse sofort mit Euch sprechen, da er den Boten unverzüglich wieder zurückschicken muss.“
Sophie wollte schon zu einer barschen Erwiderung ansetzen, was dem Ritter einfallen würde, sie auf dem Gang zu ihrer Zwiesprache mit Gott aufzuhalten. Dann fiel ihr ein, dass der Markgraf von weitreichenden politischen Ereignissen gesprochen hatte, die auf das Reich zukämen. Ihre Neugier und wohl auch ihre Angst vor dem Unmut des Gatten, wenn sie seiner Aufforderung nicht nachkam, ließ sie innehalten. Sie neigte leicht den Kopf, raffte ihre Röcke und ging wortlos an Hugo vorbei in Richtung Palas, in der Gewissheit, dass ihr ihre Damen folgten. Doch Hugo war kein Mann, der sich so leicht einschüchtern ließ, schon gar nicht von einer Frau, auch wenn es die Markgräfin höchstpersönlich war. Immerhin gehörte er zu den Vertrauten Albrechts, was ihm, wenn schon nicht den Respekt, so doch ein gesundes Maß an Vorsicht seitens der Mitglieder des markgräflichen Hofes einbrachte.
„Verzeiht, hohe Frau, wenn ich Eure Damen zurückhalte. Doch der Markgraf wünscht Euch allein zu sprechen. Die Damen sollen ihre Andacht fortsetzen…man wird ihnen eine Begleitung schicken. Ich habe den Befehl, Euch in die Burg zurückzubringen.“
Sophie verlangsamte ihre Schritte, doch war sie viel zu stolz, stehenzubleiben. Nichts weiter deutete daraufhin, dass sie ihn gehört hatte. Hugo verbeugte sich rasch in Richtung der Hofdamen und wies