Am Tor winkte Nicolas dem Wächter zu. Dieser schaute verdutzt auf, als der Junge an ihm vorbeirannte. So kam ihm auch nicht der Gedanke, diesen aufzuhalten und zu fragen, wohin er so eilig wolle. Grummelnd schüttelte er den Kopf und versank wieder in seine eigenen Gedanken.
Modorok saß zusammengesunken auf einem Stein am Fluss. Es dauerte eine Weile, bis Nicolas den weiten Weg um den Burgberg herum geschafft hatte. Er befürchtete bereits, seinen Freund hier nicht mehr anzutreffen. Doch als er ihn jetzt so am Ufer der Elbe sitzen sah, verzögerte er seinen Schritt. Er wusste, das Modorok ein einsamer Junge war, der sich meistens in sich zurückzog. Er hatte nie viele Worte verloren, auch nicht als sein älterer Bruder Gero bei einem Scharmützel mit marodierendem Raubgesindel tödlich verwundet wurde. Nur wer ihn gut kannte, konnte ahnen, wie tief ihn der Verlust dieses letzten Verwandten getroffen hatte. Modorok war der Sohn einer Hofdame der alten Markgräfin Hedwig, die jedoch bei seiner Geburt gestorben war. Die Familie war, dem Rufe Barbarossas folgend vor vielen Jahren aus dem Harz in die Gegend von Freiberg gekommen, um hier im Dienste des Kaisers bei der Besiedlung neuer Gebiete im Dunkelwald zu helfen. Doch dann war sein Vater auf die Burg Weißenfels gegangen. Er wurde ein Dienstmann des Markgrafensohnes Dietrich. Zusammen mit diesem hatte er sich auf den Kreuzzug begeben, seinen jüngeren Sohn in der Obhut des älteren zurücklassend. Doch er kehrte nicht mehr zurück. Bei einem nächtlichen Überfall war er wenige Tage vor dem Tode Kaiser Barbarossas wie vom Erdboden verschwunden, und kein Mensch konnte sagen, ob er noch am Leben oder von den Sarazenen umgebracht worden war.
Die alte Markgräfin fragte zwar dann und wann nach dem Jungen; darüber hinaus kümmerte sie sich allerdings nicht weiter um ihn, soviel Interesse hatte sie nun auch wieder nicht an dem Sohn eines unbedeutenden Ritters.
„Modorok“, sagte Nicolas leise, so, als wolle er den Freund nicht erschrecken, obwohl er genau wusste, dass dieser ihn längst gesehen hatte. Ein kurzes Zusammenzucken von Modoroks Rücken zeigte ihm, dass der andere ihn gehört hatte aber dennoch in tiefe Gedanken versunken war. „Was wollte Falk von dir? Wollte er dir etwas antun?“, fragte er besorgt.
Modorok drehte sich mit einem heftigen Schnauben herum. „Warum, zum Teufel, glaubst du immer, alle Welt beschützen zu müssen? Wer hat dir die Rolle zugeteilt, für alles und jeden die Verantwortung zu tragen? Glaubst du, ich sei solch ein Schwächling, dass ich mich nicht gegen Falk von Schellenberg und seinesgleichen zur Wehr setzen könnte? Immer so edel und großherzig. Immer über allem stehend. Unverwundbar. Hah! Dabei bist du genauso ein armes Schwein wie ich.“
Nicolas zuckte verstört zusammen. Schätzte der Freund ihn wirklich so ein, dass er sich über andere erheben wollte und den Gönner spielte, nur um von seinen eigenen Unzulänglichkeiten ablenken zu können? Hatte er vielleicht sogar recht damit? Nein, so war es doch nicht.
„Hör zu, Modorok, ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich glaubte nur, dass Falk vielleicht…“ Nicolas verstummte. Was sollte er auch sagen. Natürlich hatte er gedacht, Modorok könne sich nicht selbst verteidigen. Wie oft war es auch so gewesen, dass der andere sich dem stärkeren und rücksichtsloseren Schellenberger untergeordnet hatte. Aber ihm war nie der Gedanke gekommen, dass er es vielleicht aus Gleichgültigkeit getan haben könnte. Modorok war es schlichtweg egal, ob er der Stärkere war oder ein anderer. Während er, Nicolas, immer allen beweisen musste, dass er der Bessere war. Erst vor wenigen Tagen hatte er sich in seinem Ruhm gesonnt, dass er auf dem Übungsplatz den besten Freund von Falk von Schellenberg besiegte, einen üblen Burschen, der sich besonders durch seine Verschlagenheit auszeichnete. Ralf Blutaxt nannten die Knappen ihn, da er andere oft mit seiner Streitaxt verletzte. Ob dies nur aus Versehen geschah, wusste niemand so recht zu sagen, allerdings kamen so manchem darüber Zweifel.
Unschlüssig hockte Nicolas neben seinem Freund, die Arme schlaff herunterhängend. Er getraute sich nicht, weiter in Modorok zu bohren. So vergingen einige Minuten, in denen sie nur schweigend nebeneinandersaßen. „Ich habe immer gewusst, dass es eines Tages so kommen würde“, begann Modorok.
Nicolas schaute ihn verständnislos an.
„Er will, dass ich mich seiner Truppe anschließe.“ Modorok blickte weiterhin starr auf das Wasser. Langsam dämmerte es Nicolas, was sein Freund meinte. Tassilo von Hohnberg hatte die Knappen in Gruppen eingeteilt, damit auch während der Übungen der Kampf mit einem Gegner simuliert werden konnte. Falk war der Führer einer dieser Gruppen. Und erst an diesem Morgen hatte Tassilo Nicolas die Leitung der anderen übertragen, als Basilo von Wardenburg nach Hause gerufen wurde, um das Erbe seines Vaters anzutreten.
Nicolas wartete. So leicht sollte ihm sein Freund nicht davonkommen. Erst bezichtigte er ihn des Hochmutes und nun labte er sich auch noch an der Tatsache, dass es noch andere gab, die Interesse an diesen armen Schlucker hatten! Er schaute zu Modorok hin. Dieser saß am Rand des Ufers, als wollte er sich gleich in die Fluten stürzen. Plötzlich kam Bewegung in ihn. Mit einer geschmeidigen Drehung richtete er sich auf. Erschrocken sprang auch Nicolas auf die Füße. Obwohl er selbst einige Schritte höher am Ufer war, stand ihm der Freund Auge in Auge gegenüber. Nein, dieser Junge ließ sich von niemandem einschüchtern. Noch einmal sah er im Geiste, wie Falk Modorok mit dem Fuß angestoßen hatte. Durch die absolute Gleichgültigkeit, die dieser an den Tag legte, war Falk wütend davon gestapft.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht zu ihm komme, sondern in deiner Truppe bleibe. Ich kämpfe dort, wo es mir Spaß macht und ich gewiss sein kann, nicht plötzlich eine Axt im Rücken zu haben. Das habe ich auch Falk gesagt. Der hatte wenig Verständnis dafür, dass ich mich mit einem Schwächling wie dir abgebe.“ Modorok schaute Nicolas abwartend an, den Blick unter seinen langen Wimpern hervor fast lauernd von unten her auf diesen gerichtet.
Nicolas dachte gar nicht daran, sich provozieren zu lassen. Im Stillen tat er Abbitte, dass er jemals an der Treue seines Freundes gezweifelt hatte.
„Danke“, sagte er schlicht.
Modorok zog seine rechte Augenbraue etwas empor, und die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. „Was, mehr hast du nicht zu sagen. Nur ‚danke’? Mehr wert ist dir meine Loyalität nicht?“ Er packte Nicolas so plötzlich am Genick, dass dem anderen keine Zeit blieb, zu reagieren. Dann zog er dessen Kopf an seinen und schloss die Augen. „Du bist mein einziger wirklicher Freund hier an diesem furchtbaren Ort. Dir folge ich überall hin, und wenn es die Hölle ist. Aber glaube mir, ich tue das nur, weil ich es so will, weil ich weiß, welche Stärke in dir steckt. Verzeih mir, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Sorgen um mich machst, gibt es mir doch das Gefühl, nicht ganz wertlos zu sein. Allerdings muss ich zugeben, dass es mir auch geschmeichelt hat, dass Falk von Schellenberg genug von mir hält, um mich als Kämpe zu werben“, gab er lachend zu. „Komm, lass uns zurückgehen, sonst kommt noch jemand auf den Gedanken, wir hätten hier ein geheimes Stelldichein.“
Markgraf Albrecht stand am Fenster seines Arbeitskabinetts. Schon eine ganze Weile beobachtete er die beiden jungen Männer dort unten am Fluss. Was trieben die dort bloß? Ihm kam der Gedanke der Sodomie, als er den einen den anderen umarmen sah. Doch nein. Erst kürzlich sah er Modorok mit einer der Küchenmägde im Stall verschwinden. Und Nicolas? Zugegeben, der Bursche war fast zu hübsch für einen Jungen. Doch war nichts Weibisches an ihm. Als er kürzlich bei der Ausbildung der Knappen eine Weile zugesehen hatte, um sich über deren Fortschritte zu informieren, sah er den Anflug eines Schattens auf den noch zarten Wangen des Jungen. Also spross ihm doch schon ein Bart. Auch seine Schultern begannen breiter und kräftiger zu werden und sein schön geschwungener Mund wies einen energischen, wenn auch etwas herben Zug auf. Neben Falk tat sich Nicolas als einer der geschicktesten Kämpfer hervor. Nicht mehr lange, und aus dem Jüngling würde