Hero starrte auf den Beutel in seiner Hand. Langsam wurde er sich wieder der Blicke bewusst, die ihn von ringsum zu durchbohren schienen. Er straffte seine Schultern und hob das Kinn. Mit einer eckigen Bewegung schüttelte er sich das blonde Haar aus der Stirn. Dann schritt er in Richtung Ausgang, erst langsam, dann immer schneller, so als sei ihm das Böse auf den Fersen. Je intensiver er die Blicke der Anwesenden in seinem Rücken spürte, umso unwohler fühlte er sich und ein kalter Schauer überlief ihn. Was war es, das ihm diesen Schrecken einjagte. Die Höflinge, die sich im Palas aufhielten? Das Bewusstsein über seine Tat, das langsam in ihm heraufdämmerte? Verstohlen drehte er sich an der Tür noch einmal um, fast magnetisch wurden seine Blicke zu einem kleinen Durchgang gezogen, der im Dunkel des Saales lag. Bildete er es sich nur ein, oder stand dort wirklich eine Gestalt. Ein Schatten nur, eine Bewegung, dann war der Spuk vorbei. Hero beeilte sich, aus dem Saal zu kommen. Im Hof fand er sein Pferd, das schon auf jemandes Befehl bereitgestellt worden war. Er schwang sich in den Sattel und ritt zum Tor hinaus. Die Hufe des Pferdes donnerten über die Zugbrücke, dann verlor sich das Getrappel im Schlamm des Weges bis es gänzlich erstarb. Oben an einem kleinen Fenster neben dem Rittersaal hatte ein zwölfjähriger Junge sein Gesicht dem Hof zugewandt. Doch seine Augen blickten in die Ferne, als würden sie etwas sehen, was noch keiner wusste.
Kapitel 2
Langsam schlich sich Nicolas die Treppe hinunter. Sein Ziel war die Kapelle, in der man seinen Vater aufgebahrt hatte. Nur von kleinen Luftschlitzen auf jedem Treppenabsatz erhellt, lagen die ausgetretenen Stufen im Dämmerlicht vor ihm. Ein schepperndes Geräusch in der Ferne ließ ihn zusammenzucken. Sein Herz begann zu klopfen und für einen Moment musste er stehenbleiben, um sich wieder zu beruhigen. Niemand würde ihn bemerken. Diese schmale Treppe, die einzig der Mundschenk und die Leibdiener des Markgrafen benutzten, betrat zu dieser Tageszeit niemand. Das ferne Geräusch kam sicher nur von der Köchin, die ihre Vorbereitungen für das Mittagsmahl traf. Alles würde normal verlaufen an diesem Tag, die Ritter würden trainieren, der Schmied die Waffen und Rüstungen reparieren oder die Pferde neu beschlagen, die Zimmerleute das Holz des Wehrganges ausbessern. Nur für ihn, Nicolas, wäre nichts mehr normal.
Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Wieder sah er die schrecklichen Bilder vor sich, als Hero von Lingenburg erbarmungslos auf seinen Vater einschlug. Nicolas` Beine drohten unter ihm nachzugeben und er musste sich einen Moment auf die kalten Stufen setzen. „Warum nur, Gott, hast du das zugelassen?“ flüsterte er. Doch aus der Dunkelheit erhielt er keine Antwort. Nicolas` Gedanken schweiften zurück.
Dunstschwaden zogen zum Himmel. Nicolas stand am Rande der großen Wiese, die sich vom Fluss zur Burg hin erstreckte. Mit weit ausholenden Schwüngen ließ er kleine Steinchen über das Wasser springen. Da hörte er Hufgetrappel und das Klirren von Metall auf der anderen Seite des Ufers. Sein Herz machte einen freudigen Sprung.
„Vater, Vater!“, rief er laut. „Hier bin ich, auf der anderen Seite!“ Isbert schaute angestrengt in die Richtung, aus der der Ruf erscholl. Die Abendsonne, die sich auf dem Wasser spiegelte, blendete ihn, doch die Stimme seines einzigen Sohnes hätte er immer und überall erkannt.
„Wie ich höre, werdet Ihr bereits sehnsüchtig erwartet. Wollen wir hoffen, dass mein Bruder uns nicht gleich erschlagen lässt, wenn wir die Burg betreten“, sagte Dietrich schmunzelnd zu seinem Ritter. Er strich sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht. Sein blauer Mantel flatterte im Wind, der über den Fluss wehte. Dietrich kehrte nach nur einem halben Jahr vom Kreuzzug ins Heilige Land zurück. Und mit ihm Nicolas` Vater. Der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa hatte die Fürsten des Reiches aufgefordert, ihn zu begleiten. Allerdings waren nicht alle seinem Ruf gefolgt. Zwischen Dietrich und seinem Bruder Albrecht gab es deswegen heftige Auseinandersetzungen. Albrecht wollte die Mark Meißen nicht verlassen, doch sein Bruder gierte nach Ruhm und Ehre und schloss sich mit einigen Rittern und Gefolgsleuten dem Kaiser an. Ihr Vater, Markgraf Otto der Reiche, hatte eigentlich seinen jüngeren Sohn Dietrich zum Nachfolger bestimmt. Aber als er im letzten Jahr kurz vor Lichtmeß gestorben war, entschied König Heinrich, der Sohn des Kaisers und Verwalter des Reiches, anders und sprach Albrecht die Markgrafenwürde zu. Auch deshalb verließ Dietrich die Mark. Mit dem plötzlichen Tod Kaiser Barbarossas in den Fluten des Saleph war für die meisten deutschen Fürsten der Kreuzzug beendet. Nur wenige begleiteten seinen jüngsten Sohn Friedrich weiter nach Akkon.
Heinrich folgte seinem Vater auf den Thron und ließ sich auch bald in Rom zum Kaiser krönen. Dietrich wusste, dass sein Bruder dem Kaiserspross nicht gerade in Freundschaft zugetan war, und deshalb eilte er, so schnell er konnte, zurück nach Meißen, um seine eigenen Interessen zu wahren. Vielleicht respektierte der neue Kaiser jetzt seine Anrechte auf die Markgrafenkrone, die ihm sein Vater hinterlassen hatte.
Aber Heinrich entschied anders und bestätigte Albrecht in seinem Lehen. Doch dieser wusste, dass sein Bruder in der Mark Meißen eine große Anhängerschaft hatte. Sein vier Jahre jüngerer Bruder war das Ideal eines deutschen Ritters. Nicht nur seine hochgewachsene Gestalt und seine angenehmen Gesichtszüge machten ihn zum geborenen Führer. Auch seine edle Gesinnung, sein immerwährender Hang zur Gerechtigkeit, sein ständiges Mitleid mit benachteiligten Kreaturen, sein unerschütterlicher Edelmut – das war es, was Albrecht so an ihm hasste. Dietrich war das Abbild ihrer Mutter, der hochedlen Frau Hedwig, welche von ihrer Kemenate aus heute noch die Damen und ihn, Albrecht, überwachte und dirigierte. Die einzige Chance, die dieser hatte, war Krieg.
Die Ritter warteten auf das Floß, das sie zur anderen Seite der Elbe bringen würde. Endlich legte der Fährmann an. Die Männer führten ihre vor dem Wasser leicht scheuenden Pferde auf die Holzplanken.
„Gott zum Gruße, Einhart“, begrüßte Dietrich den alten Mann, den er praktisch schon sein ganzes Leben kannte. „Was gibt es neues in der Mark?“, fragte er augenzwinkernd. Der alte Einhart fuhr seit etlichen Jahrzehnten über den Fluss und viele Ritter und adlige Herren hatten sich seinem Geschick anvertraut, alle heil über das Wasser zu bringen.
„Auch Euch soll der Herr beschützen auf Euren Wegen“, antwortete Einhart ehrerbietig. „Die Zeiten sind hart, Eurer Gnaden. Eurer Bruder zieht mit seinen Waffenknechten übers Land und wer ihm nicht den genügenden Respekt zollt, den lässt er niedermachen und oft mit ihm gleich das ganze Dorf.“ Der Alte schüttelte traurig den Kopf. „Auch mit Kaiser Heinrich hat er sich überworfen, obwohl dieser ihm trotzdem die Mark zugesprochen hat“, fuhr er fort. „Das hat mir der Herr von Hohnberg erzählt“, ergänzte er auf den fragenden Blick Dietrichs hin.
„Er überfällt also wieder meine Ländereien“, sagte dieser mehr zu sich selbst als zu den anderen. „Sicher rechnet er nicht mit meiner Wiederkehr und will sich alles unter den Nagel reißen. Aber da hat er sich verrechnet, mein sauberer Herr Bruder.“ Er stierte einen Moment wütend vor sich hin. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er hob beinahe trotzig den Kopf. „Das wird ihm nicht gelingen. Ich weiß mich zu wehren. Er hat keine Verbündeten mehr, da er alle vor den Kopf stößt. Selbst die Verwandten seiner Frau hat er mehrmals brüskiert, und wie ich hörte, will der Bischof von Prag in Meißen einmarschieren.“
„Der neue Kaiser kann Albrecht ja auch nicht leiden“, warf einer seiner Männer dazwischen.
„Was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, meinem Bruder die Mark als Lehen zu geben. Heinrich ist ein verschlagener Kerl, der ausschließlich seine eigenen Interessen durchsetzen will. Die Fürsten des Reiches sind ihm egal. Seine Sympathie für meinen Bruder hält sich bekanntlich schon immer in Grenzen.“
„Was werdet Ihr jetzt tun, Dietrich?“, fragte Isbert besorgt. „Seid Ihr sicher, dass sich Euer Schwiegervater, der Thüringer Landgraf,