Nach ihrem Bootsausflug trafen sie sich mit seiner Schwester Lucia und ein paar gemeinsamen Freunden. Julia fand seine Freunde alle sehr nett, auch wenn sie nicht alles verstand, über was gesprochen wurde. Eigentlich wäre sie auch lieber mit Marcos allein geblieben, doch anfangs war es noch recht lustig. Dennoch wurde sie auch von einigen seiner Freunde etwas misstrauisch beäugt, vielleicht bildete sie sich das aber auch bloß ein. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, nicht dazu zu gehören. Zunächst hatten sich zu einem Picknick am Strand zusammengefunden, und es wurde viel gelacht und herumgealbert. Doch dann wurde die Stimmung plötzlich angespannter, und ehe Julia sich versah befand sie sich vor einem hohen Zaun einer Obstplantage wieder. Einige der jungen Leute hatten den Zaun schnell überwunden und waren in den Büschen verschwunden. Sie sah mit entsetztem Gesicht zu und versuchte, zu realisieren, was hier gerade vor sich ging. Marcos nahm ihre Hand und sagte: „Komm.“
Erst dann begann sie zu reagieren. Sie entzog ihm ihre Hand und blickte ihm geschockt entgegen.
„Was soll das, Marcos? Was machen wir hier?“
„Gar nichts. Wir haben nur ein bisschen Spaß und…“
„Spaß? Was ihr hier vorhabt, ist stehlen oder Hausfriedensbruch oder was auch immer, Marcos.“
„Nein, du verstehst das nicht. Viele von uns haben nicht viel Geld, und wir nehmen uns nur so viel wie wir brauchen.“
„Es bleibt aber trotzdem dabei, dass es stehlen ist.“
Nun mischte sich auch Lucia ein, die die ganze Szene bisher nur still beobachtet hatte.
„Ach komm. Nun habt dich nicht so. Hier ist Obst in Unmengen, und es tut niemanden weh, wenn wir uns ein bisschen davon nehmen.“
Marcos lächelte sie unsicher an. Doch davon ließ sie sich nicht erweichen. Der schöne Tag fand plötzlich Ernüchterung und sie bekam es mit der Angst zu tun. Doch so sehr sie Marcos auch liebte, bei diesem Spiel würde sie nicht mitmachen. Sie sah Lucia zornig in die Augen.
„Nein, da mach ich nicht mit. Kann sein, dass das bei euch normal ist, aber mir macht das Angst. Ich bin für vieles zu haben und habe schon genug Mist gebaut, aber das geht für mich zu weit. Ich bin hier zu Gast in einem fremden Land, da werde ich sicher nicht das Gesetz brechen. Was würde mit mir passieren, wenn wir erwischt werden?“
„Typisch, war doch klar, dass du jetzt kneifst. An den gutaussehenden südländischen Jungen scheinst du Gefallen zu finden, aber die Lebensweisen willst du nicht hinnehmen.“
Julia wusste zwar nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte und sie bezweifelte, dass alle Puerto Ricaner das Gesetz so missachteten. Dennoch schwieg sie und sah Lucia verständnislos an. Lucia hingegen zeigte nun ihr ganzes südländisches Temperament.
„Das ist das Problem mit euch Deutschen. Ihr seid doch alles nur verwöhnte Schnösel und habt keine Ahnung, was es heißt, wenn man ums Überleben kämpfen muss.“
Julia schnappte hörbar nach Luft.
„Was weißt denn du von uns Deutschen? Auch bei uns gibt es Menschen, denen es nicht so gut geht. Nicht alle können sich einen Urlaub leisten und schon gar nicht in der Karibik. Du hast doch keine Ahnung. Meine Eltern haben fünf Jahre für diesen Urlaub gespart um sich diesen Traum zu erfüllen. Mein Vater hat hart dafür gearbeitet.“
„Und trotzdem seid ihr alle verwöhnte Schnösel und haut euch hier in den Hotels die Bäuche voll. Du gehörst hier eben nicht her, Julia.“
Julia merkte, dass ihr vor Zorn die Tränen in die Augen schossen. Sie sah Marcos an und erhoffte sich von ihm Rückendeckung gegen seine selbstbewusste Schwester. Doch er sah nur bedrückt zu Boden und konnte ihr nicht in die Augen sehen.
„Siehst du das genauso, Marcos?“, fragte sie leise mit zittriger Stimme.
Er antwortete nicht und es schmerzte sie mehr, als sie geahnt hätte.
„Marcos?“, sagte sie noch einmal. Dann sah er sie an und sie erkannte in seinen Augen, dass er nicht für sie Partei ergreifen würde. Er teilte also demnach die Meinung seiner Schwester. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten, die ihr die Wange hinunterliefen. Marcos wollte ihre Hand ergreifen.
„Du verstehst es nicht, Julia“, sagte er leise. Nein, sie verstand es tatsächlich nicht und sie wollte es auch nicht verstehen. Sie wollte nicht verstehen, was hier gerade vor sich ging. Bis eben war alles noch so wunderbar gewesen, und nun machte er alles kaputt.
„Vielleicht gehöre ich hier wirklich nicht her. Ich möchte zurück zum Hotel.“
Doch er rührte sich nicht oder bot ihr an, sie zurück zum Hotel zu begleiten. Sie war so geschockt von der plötzlichen Wendung und seinem Verhalten, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie drehte sich um und lief laut schluchzend und halb blind vor Tränen davon. Sie hoffte nur, den Weg allein bis zum Hotel zurück zu finden. Wie konnte er sie so einfach hier allein stehen lassen? Sie war so wütend und enttäuscht, und es tat so unglaublich weh.
Sie fand den Weg zum Hotel tatsächlich einigermaßen mühelos und traf pünktlich zum Abendbüffet ein. Hunger hatte sie jedoch nicht und so verzog sie sich ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer. Selbst nach mehrfachen Nachfragen ihrer Mutter schwieg sie und weigerte sich zu erzählen, was passiert war. Sogar ihre Schwester ließ sie in Ruhe, auch wenn Claudia in der Nacht kaum ein Auge zubekam und nur dem leisen Schluchzen ihrer Schwester im Bett nebenan lauschte.
Kapitel 6
Zum Frühstück war sie am nächsten Tag ebenfalls nicht erschienen. Sie war müde, hatte keinen Appetit und sah zudem auch noch fruchtbar aus. Ihre Augen waren vom vielen Weinen der vergangenen Nacht gerötet und völlig verquollen. Gegen Mittag verließ sie dann doch ihr Hotelzimmer und durchquerte das Hotelgelände. Sie begegnete seinen Eltern, die die Mülleimer auf dem Gelände leerten. Sie grüßten sie freundlich und lächelten ihr aufmunternd entgegen. Sie versuchte ebenfalls, sich ein Lächeln abzuringen, doch sie war sich ziemlich sicher, dass es sehr verkniffen aussehen musste. Auch Lucia begegnete ihr, und auch sie schien etwas zerknirscht auszusehen. Hatte sie wohlmöglich ein schlechtes Gewissen, dass sie Julia am vergangenen Tag so unschöne Sachen an den Kopf geworfen hatte? Eine Entschuldigung brachte Lucia dann aber doch nicht über die Lippen, nur ein kurzes, wenn auch freundliches Hallo. Marcos sah sie nicht, obwohl sie wusste, dass er heute hier irgendwo sein musste. Erst gegen Nachmittag sah sie ihn dann. Er war in seiner Arbeit vertieft. Eine Weile sah sie ihm aus sicherer Entfernung zu und musste feststellen, dass sie noch immer ziemlich sauer auf ihn war. Als sie ihn zum zweiten Mal an diesem Tag sah, war es bereits später Nachmittag. Sie beendete gerade ihr Sonnenbad am Strand und wäre ihm beinahe in die Arme gelaufen. Dieses Mal war er gerade in ein Gespräch mit einem Hotelgast verwickelt und so schlich sie sich an ihm vorbei und tat so, als hätte sie ihn nicht gesehen. Auch am Abend sah sie ihn noch einmal. Während des Abendessens blickte sie ein paar Mal in seine Richtung, doch er erwiderte ihren Blick nicht, was sie noch ein wenig zorniger machte, sofern das überhaupt noch möglich war. Ein paar Mal fragte sie sich, ob sie nicht einfach zu ihm hinüber gehen und mit ihm sprechen sollte. Aber sie war einfach zu wütend auf ihn. Sollte er doch gefälligst zu ihr kommen! Später am Abend war sie dann