Hier im Biedermeierzimmer hatte Annemarie alles beieinander, was ihr lieb war. Saß sie am Nähtisch, so schaute sie beim Aufblicken in ihres Vaters kluges Gesicht mit den väterlich treusten Augen, die je ein Kind behütet. Des Vaters Bild stand stets vor Annemarie. Eine Vase mit den Blumen der Jahreszeit daneben. Den Heimgang des Vaters vor anderthalb Jahren konnte Annemarie noch immer nicht verwinden. Mitten in seiner menschenfreundlichen Tätigkeit hatte der Würgeengel den Teuren berührt. Ein Herzschlag hatte seinem segensreichen Mühen, das so oft über den Tod Sieger geblieben, nun selbst ein Ende gesetzt. Annemaries impulsive Natur, welche das Leben im Laufe der Zeit allmählich etwas hatte abebben lassen, brach in elementarem Schmerz hervor. Sie hatte ja schon mehr Menschen hingeben müssen, an denen ihr Herz hing. Die Großmama – die Trauer um dieselbe war eine stille Wehmut gewesen; denn die Lebensuhr der alten Frau war abgelaufen, ihr Dasein erfüllt. Auch hatte sie mit ihrem Manne gemeinsam schweres Leid zu tragen gehabt. Seine einzige Schwester Ola, die Annemaries ältesten Bruder geheiratet hatte, war in der Blüte ihrer Jahre einer tückischen Krankheit, die aller Kunst, aller hingebenden Sorge Hohn sprach, zum Opfer gefallen. Da hatte Annemarie stark sein müssen. Sie mußte ihrem Gatten, ihrem Bruder in der schweren Zeit eine Stütze sein. Eigenes Weh mußte zurückgedrängt werden. Aber beim Tode des Vaters war das anders. Da fühlte sie sich wieder Kind, ein verwaistes Kind, das sich auflehnte gegen das Unerbittliche, Unfaßbare. Mit zarter Innigkeit hatten ihre Lieben sie umschlossen. Rudis liebevolle Fürsorge heilte am besten ihr Weh, verwandelte ihre leidenschaftlichen Schmerzausbrüche in stillgemäßigte Trauer. Die Kinder hatten sie wieder lachen gelehrt. Um ihretwillen durfte sie sich nicht in ihren Schmerz vergraben. Sie wollten ihre Mutter tatkräftig und froh, wie sie dieselbe von jeher kannten. Und dann gab's auch wieder neue Pflichten für Annemarie, die gegen ihre jetzt vereinsamte Mutter. Frau Doktor Braun war nicht dazu zu bewegen, zu einem ihrer Kinder überzusiedeln. Trotzdem es nahe lag, daß sie ihrem Sohne Hans die fehlende Hausfrau ersetzte. Nein, aus ihren lieben Räumen, in denen sie mit dem teuren Gefährten alt geworden war, die das Glück ihres Lebens atmeten, ging sie nicht hinaus. Lieber vermietete sie einen Teil der jetzt viel zu großen Wohnung. Das hatte auch den Vorteil, daß sie sorgenlos leben konnte. Denn Hanne, die treue Alte, die, trotzdem sie nun auch schon auf die Siebzig lossteuerte, noch immer ihre Kräfte dem Braunschen Hause widmete, hatte sofort erklärt: »Wa nehmen Ausländer in Pension, die kennen berappen. Kochen will ich vor ihnen, denn kennen Frau Doktern und meine Wenigkeit janz vor umsonst mitfuttern.« Hannes Rat hatte sich als durchaus praktisch erwiesen. Annemaries Mutter hatte ihr gutes Auskommen dadurch, und was ebenso viel wert war, sie hatte wieder zu denken und zu sorgen. Denn die Braunschen Pensionäre waren wie Kinder im Haus, man riß sich darum, dort Aufnahme zu finden. Und daran war nicht nur Hannes gute Küche schuld.
Annemarie hatte einen Korb Ausbesserwäsche vorgenommen. Trotzdem sie sich jetzt auf Rudis Wunsch Stubenmädchen und Köchin hielt, ihre Einfachheit und Arbeitsamkeit hatte sie nicht eingebüßt. Überall legte sie selbst mit Hand an. »Gönn' dir doch mehr Ruh', Herzle,« sagte Rudi Gott weiß wie oft zu ihr, »du kannst es doch jetzt haben.« Aber sie lachte ihn aus: »Zum Feiern habe ich Zeit, wenn ich alt bin. Arbeit erhält jung. Ich habe in den ersten Jahren unserer Ehe viel zu sehr heran müssen, um nun plötzlich die elegante Dame spielen zu können. Das liegt mir nun mal nicht.«
Um so mehr aber lag das ihrer jüngsten Tochter, dem Fräulein Ursel. Die ließ sich nur zu gern bedienen. Die rührte am liebsten überhaupt nichts im Haushalt an. Na, da kam sie bei Annemarie grade an die Rechte. Zu jeder Arbeit zog die Mutter sie heran, soweit die Schulpflichten Ursel nicht in Anspruch nahmen. Ursel rümpfte die Nase, streikte auch wohl mal; aber sie hatte ihre Mutter viel zu lieb, um dann nicht doch das Gewünschte zu tun. Daß sie es nicht für die Mutter, sondern für sich selbst tat, verstand sie noch nicht. Annemarie wollte ihre Kinder unabhängig machen von andern. Sie hatte es an sich selbst empfunden, daß es nicht gut tat, daheim verwöhnt und verweichlicht zu werden. Doktor Brauns Nesthäkchen hatte es im Elternhause allzu gut gehabt. Hanne, die sie schon auf den Armen gewiegt, hatte ihr jede häusliche Arbeit abgenommen. »Unser Kind is vor so was ville zu schade, davor is ja die Hanne da«, pflegte sie zu antworten, wenn Frau Doktor Braun ihr Vorstellungen machte. Es war gut gemeint, aber es rächte sich später im eigenen Nest. Da kamen die kleinen Kinder, da kamen Dienstbotenmiseren. Frau Annemarie hatte viel Lehrgeld zahlen müssen, bis sie sich zur Meisterschaft durchgerungen. Davor wollte sie ihre Kinder bewahren. Aber es war nicht immer ganz leicht. Denn die Mädchen, welche ihr junges lustiges Fräulein Ursel abgöttisch liebten, taten ihr alles zu Gefallen, und Ursel verstand das schlau auszunützen. Es wiederholte sich eben alles im Leben.
Wo blieb denn die Ursel? Hans hatte ihr die Bestellung doch sicher ausgerichtet. War sie wieder mal eigensinnig und leistete keine Folge?
Annemarie seufzte. Ursels Erziehung war nicht so ganz einfach. Vronli und Hans hatten sich ziemlich von selbst erzogen. Ursel war ungleich schwieriger. Sie verband bestrickende Liebenswürdigkeit mit einer starken Mischung von Selbstbewusstsein und Eigenmächtigkeit. Weiche Zärtlichkeit mit eigensinniger Hartnäckigkeit. Dazu ein gut Teil Schlauheit und weibliche Eitelkeit. Jeder hatte ihr von klein auf gesagt, was für ein reizendes kleines Ding sie sei, daß sie selbst natürlich davon am meisten überzeugt war. Da konnte nur eine liebevolle Mutter die Auswüchse verständnisvoll beschneiden, denn mit Strenge war Ursel nicht zu kriegen.
Grade als Annemarie ihre Arbeit beiseite legen wollte, um selbst mal nach ihrem saumseligen Nesthäkchen zu sehen, hörte man auf der Treppe Schritte. Oder vielmehr Sprünge von einem zweibeinigen und einem vierbeinigen Wesen. Die Tür ward aufgerissen, hereinstürzte ein großer Hühnerhund. Dahinter Ursel, zum Ausgehen gerüstet.
»Ursel, bringe den Hund hinaus. Du weißt, ich mag ihn nicht in den Wohnräumen«, ordnete die Mutter an.
»Ach, Cäsar ist ein so braver Kerl, das nimmt er übel, wenn man ihn rausschmeißt. Und er hat das Biedermeierzimmer so gern. Er hat entschieden Schönheitssinn«, verteidigte Ursel ihren Liebling.
»Ich finde es notwendiger, daß du dich um das kümmerst, was ich gern oder nicht gern habe, Ursel«, sagte Frau Annemarie mit leisem Vorwurf.
»Puh – Mutti, mach' kein Gouvernantengesicht. Das steht dir nicht.« Aber da die Miene der Mutter sich nicht aufheiterte, wie das sonst öfters der Fall war, wenn Ursel ihren Spaß mit ihr trieb, setzte sie hinzu: »Schieß los, Muzi. Ich hab' nicht viel Zeit. Du hast mich zur feierlichen Audienz befohlen.« Für gewöhnlich hatte Ursel durch ihre drollige Art die Lacher auf ihrer Seite. Heute versagte ihr Erfolg bei der Mutter.
»Du wirst für das, was ich mit dir besprechen will, Zeit haben, Ursel. Wo willst du denn überhaupt hin?«
»Überall und nirgends. Zuerst mal zu Ruth oder zu Edith. Zu irgendeiner gleichgestimmten Seele, die wie ich ihre lang ersehnte Freiheit heute genießen will.«
»Ja, aber höre mal, liebes Kind, soweit geht diese Freiheit denn doch noch nicht, daß du ohne Erlaubnis fortgehst«, wandte die Mutter ein.
Ursel warf den Kopf mit dem prachtvollen Goldhaar ungezogen zurück. »Jetzt bin ich aus der Schule und erwachsen, folglich kann ich auch tun und lassen, was ich will«, gab sie keck zur Antwort. Aber da die Mutter sie nur, ohne sich zu äußern, stumm anschaute, setzte sie noch einmal, freilich nicht mehr ganz so selbstbewußt »na ja!« hinzu.
»Wenn du dich auf einen solchen unreifen und unverständigen Standpunkt stellst, haben wir beide uns nichts mehr zu sagen.« Frau Annemarie war selbst erstaunt über die Ruhe, mit der sie Ursel begegnete. Früher wäre ihr das niemals möglich gewesen. Rudis Gleichmäßigkeit hatte sicher schon abgefärbt. Sie griff nach den Handtüchern und begann den Faden wieder durch das dünn gewordene Gewebe zu ziehen.
Ursel sah unschlüssig auf die Mutter. Hätte dieselbe sie zurechtgewiesen, wie sie es verdient hatte – Ursel war klug genug, um das selbst einzusehen –, dann wäre sicher ihr Trotz geweckt worden. So aber tat ihr die ungezogene Antwort leid.
»Du kannst mir ja erst noch sagen, was du von mir willst. Soviel Zeit habe ich schon noch«, lenkte sie ein.
»Ich habe jetzt die Lust dazu verloren. Geh nur, du bist ja von heute an selbständig.« Die Mutter blickte nicht auf.