So war es immer gewesen, in all den Jahren ihrer Ehe. Einer verstand es stets, dem andern die Sorgen zu verscheuchen. Jeder nahm sich zusammen, um dem andern ein heiteres Gesicht zu zeigen. Annemarie schüttelte den Druck, der ihre Frohnatur nur selten mal beschwerte, ab.
»Hast recht, Rudi, man muß die Küken ihren Weg gehen lassen, wenn sie erst mal flügge geworden sind. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, daß derselbe zu ihrem Glück führen möge. So – nun ist es Zeit, mich zu verabschieden. Es hat schon verschiedene Male geklingelt. Sonst zieht sich die Sprechstunde wieder bis zum Abendbrot hin. Den Kaffee schicke ich dir gleich rein, Rudi.« Sie nickte ihrem Mann noch einmal liebevoll zu und verließ das Zimmer.
Hansi kam pfeifend die Treppe, die zu den im oberen Stockwerk gelegenen Zimmern der Kinder führte, herunter.
»Hör mal, mein Junge, es wird allmählich Zeit, daß ich endlich dein Zeugnis zu sehen bekomme«, erinnerte die Mutter den Saumseligen.
»Mußt dich noch ein wenig gedulden, Mutterherz. Eine elektrische Sicherung ist durchgebrannt. Die muß ich erst in Ordnung bringen.« Hans war Handwerker für alles. Mit allen Nöten wandte man sich an ihn. Er hatte eine geschickte Hand, die notwendige Ruhe zu allem und bastelte gern.
Aber dann beim Kaffee, den Mutter und Sohn in traulichem Beieinander einnahmen – Ursel, der Trotzkopf, hatte nicht zu erscheinen geruht – da half es dem Hans nichts mehr. Das Zeugnis mußte herbei.
Es entsprach denn auch durchaus Frau Annemaries Erwartungen. Oder vielmehr, es war noch schlechter als dieselben.
»Ja, aber Junge, das ist ja eine Schundzensur! Wie wird sich der Vater darüber ärgern.« Daß sie selbst aufgebracht darüber war, kam erst in zweiter Linie. »Du kannst, wenn du willst. Es ist nur Trägheit bei dir und Gleichgültigkeit gegen die Anforderungen der Schule. Nichts als Flausen hast du im Kopf. Keinen Ernst – kein Streben – –« Frau Annemarie war noch genau so impulsiv wie dereinst.
Um so ruhiger blieb der filius. »Liegt an der Schule, nicht an mir. Der Kram interessiert mich nicht. Nehmt mich doch raus. Im Leben werde ich schon was Tüchtiges leisten«, meinte er mit überzeugender Selbsteinschätzung.
»Ja, das sagen alle Nichtstuer. Wer in der Schule nicht seine Pflicht tut, vernachlässigt sie auch im späteren Leben.« Es gab eine Zeit, wo Doktor Brauns einstiges Nesthäkchen noch nicht so weise gesprochen.
»Und Onkel Klaus? Er ist der tüchtigste Landwirt, den es gibt. Und war dabei früher doch ein Lausbub ersten Ranges – er hat es mir selbst erzählt, als wir das letzte mal bei ihm an der Waterkant waren. Im Gymnasium hat er nur von milden Gaben sein Dasein gefristet, und kleben geblieben ist er auch mal. Ich bin doch noch immer mit graden Gliedern durchgerutscht«, verteidigte sich Hans. Onkel Klaus war sein Ideal. Der Neffe hatte äußerlich und innerlich viel Ähnlichkeit mit dem Bruder der Mutter, das mochte ihn wohl ganz besonders zu ihm hinziehen.
»Erst leiste das, was Onkel Klaus leistet. Wie du dein Abiturium machen willst, wenn du in den Hauptfächern so schwach bist, ist mir schleierhaft –«
»Mir auch!« Hans seufzte tief und schaute sorgenvoll drein. »Weißt du, Mutter, wir wollen die Angelegenheit mal freundschaftlich besprechen. Wenn ich euch einen guten Rat geben darf, so ist es der –«
»Wir brauchen deinen guten Rat nicht, mein Sohn«, unterbrach ihn die Mutter.
Aber Hans fuhr unbeirrt fort: »Nehmt mich aus der Schule, laßt mich Landwirt werden. Gebt mich zum Onkel Klaus in die Lehre – –«
»Und der Vater? Der dich zu seinem Nachfolger bestimmt hat? Der hofft, daß sein einziger Sohn das, was er in mühevollen Jahren aufgebaut, mal weiter fortführen wird, der dich zu seinem Assistenten heranbilden möchte, Hansi ...«, stellte Annemarie dem Sohne eindringlich vor.
»Kann er nicht. Ein Mensch darf das Schicksal des andern nicht derart beeinflussen. Und wenn es selbst der Vater ist. Jeder muß seinen Weg gehen. Auch Ursel findet das – – –«
»Du bist ja ein ganz dummer Junge! Wenn zwei unreife Menschen dieselbe Ansicht haben, ist es deshalb noch lange nicht eine richtige. Pflicht der Eltern ist es, Kinder, denen die nötige Lebenserfahrung noch fehlt, nach bestem Gewissen zu beraten. Heute wollt ihr dies, morgen jenes. Vorläufig bleibst du ruhig in der Schule, mein Junge. In einem Jahr denkst du vielleicht grade entgegengesetzt.«
»Glaub' ich nicht«, meinte Hans mit sachlicher Ruhe, die zu dem erregten Ton der Mutter in merkwürdigem Gegensatz stand. »Deine Brüder, Onkel Hans und Onkel Klaus sind doch alle beide keine Mediziner geworden, trotzdem der Großvater es sicher auch gewünscht hat, daß einer in seine Fußtapfen tritt.«
»Mein seliger Vater hat es damals auch schwer genug empfunden.« Annemarie warf einen wehmütigen Blick zu dem Bilde ihres Vaters, das Tannengrün schmückte. »Aber er hat dafür seinen Schwiegersohn gehabt – – –«
Hans zuckte die Achsel.
»Da müßt ihr euch an Vronli und Ursel wenden«, meinte er mit männlicher Logik. »Für Schwiegersöhne bin ich nicht verantwortlich.«
»Aber für eine anständigere Zensur zum nächsten Quartal, die bitte ich mir ganz energisch aus! So, mein Sohn, die Angelegenheit ist vorläufig erledigt. Nun werde ich mir die Ursel vornehmen und der den Kopf zurechtrücken. Rufe sie mir mal herunter.«
Frau Annemarie begab sich in ihr nebenan gelegenes Wohnzimmer, halb ernst, halb belustigt den Kopf schüttelnd: »Nein, diese Kinder!«
2. Kapitel
Ursel
Das Doktornest in Lichterfelde hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Es war in die Höhe geschossen wie die drei Hartensteinschen Küken. Einen neuen Oberstock hatte es bekommen, einen Erkeranbau mit Terrasse. Auch Gartenland hatte der Professor dazu gekauft. Nach allen Seiten hatte sich das bescheidene Anwesen gestreckt. Professor Hartenstein war ein berühmter Arzt geworden, der es sich leisten konnte, seiner Annemarie ein schönes, behagliches Heim zu schaffen. Gar stattlich nahm es sich von der Straße her aus. Besonders im Herbst, wenn der wilde Wein es purpurn umglühte. Zwischen den Fenstern gab es selbst im Winter Hyazinthen, Tulpen und Primeln in leuchtender Buntheit. Auch innen hatte es sich verändert. Das Herrenzimmer mit den Lederklubmöbeln und der prachtvollen, die ganze Wand einnehmenden Bibliothek, dem Stolz des Hausherrn, war dazu gekommen. Annemaries Wohnzimmer hatte sich in ein stilvolles Biedermeierzimmer verwandelt. Die lieben alten Möbel der Großmama hatten nach deren Tode – sechs Jahre war es jetzt her – ihren Einzug hier draußen in das Reich der Enkelin gehalten. Das Biedermeierzimmer war seitdem Frau Annemaries liebster Aufenthalt geworden. Hier erzählte jedes Stück von früher, von der alten gütigen Frau, deren Augapfel Doktor Brauns Nesthäkchen einst gewesen. Da war die helle Nussbaumservante mit all den Goldtässchen und den Porzellanpüppchen, der Schäferin und dem Rokokodämchen, die einst das Entzücken der kleinen Annemarie gebildet. Da war das grüne Ripssofa, das ängstlich vor unvorsichtigen Kinderfüßen behütet worden war, mit dem gemütlichen runden Tisch, dessen seine weiße Strickdecke Großmamas fleißige Finger noch eigenhändig fabriziert. Darüber hing das Bild der lieben alten Frau, wie sie unter dem Nussbaum in Lüttgenheide, dem Gute an der Waterkant, mit ihrem Strickzeug saß. Nach einer Amateuraufnahme hatte Annemaries Freundin Vera Burkhard es vergrößert. Daneben schaute Tante Albertinchen mit den Ringellöckchen, Großmamas Schwester, aus goldenem Rahmen. Im Erker stand Großmamas Blumentisch, zum größten Teil noch mit Pflanzen, welche die einstige Besitzerin selbst gepflanzt. Jeden Ableger, jedes Blättchen, jede Knospe zog Annemarie mit einer Liebe, als könnte sie der Großmama dieselbe noch dadurch über das Grab hinaus beweisen. Der kleine, zierliche Nähtisch der Großmama, der ebenfalls Geheimnisse aus Annemaries Kinderzeit barg, ihren ersten mit Prudellöchern garnierten Seiflappen, das Nadelbuch mit der ersten Kreuzsticharbeit und das Häkeldeckchen, das nie fertig geworden, bildete in Gemeinschaft mit Großmamas Lehnstuhl Frau Annemaries Lieblingsplätzchen. Hier regte sie jetzt die fleißigen Hände. Oh, Annemarie hatte es doch noch lernen müssen, das einst so wenig geliebte