Ganz andere Sorgen hatte die Ursel. Mit gefurchter Stirn schaute sie hinaus in das Blühen ringsum. Was fing sie nur mit Cäsar an? Ein Billett würde sie ihm nachlösen müssen, das war das wenigste. Aber was weiter? Unmöglich konnte sie doch ihren Einzug in ihr neues Tätigkeitsfeld mit dem Vierfüßler halten. Herr Bankdirektor Hildebrandt, bei dem sie sich melden sollte, würde Augen machen. Nein, das ging auf keinen Fall. Hätte sie nur die Zeit, wo sie in den Anlagen gedöst hatte, dazu benutzt, den Ausreißer wieder nach Hause zu spedieren. Nun hatte sie den Salat. Wohin, wohin bloß mit Cäsar?
Zu Edith Rosen – Edith selbst war zwar bestimmt nicht zu Hause; die Freundin besuchte seit April ein Maleratelier. Aber Frau Rosen würde Cäsar wohl inzwischen in Pension nehmen – nein, es ging doch nicht. Eine halbe Stunde verlor sie mit dem Hin und Her sicher noch. Dann lohnte es sich schon gar nicht mehr, heute in der Bank anzutreten. Halt – das war eigentlich ein Gedanke – das war wirklich eine glänzende Idee! Am Ende verzichtete der Bankdirektor dann überhaupt auf ihre Tätigkeit, dann war sie den ganzen Krempel los. Ja, aber der Vater ... er konnte manchmal recht unangenehm werden. Und in diesem Falle würde er ganz bestimmt annehmen, daß sie sich von der neuen Tätigkeit habe drücken wollen, daß sie den Hund mit Vorbedacht mitgenommen habe. Da würde alle gütige Vermittlung ihrer kleinen Muzi nicht mal etwas nützen. Nee – nee – das ging nicht. Alle Verwandten und Freunde, deren Obhut sie den Köter hätte anvertrauen können, wohnten zu entfernt. Es half nichts, Cäsar mußte mit als Banklehrling antreten.
Inzwischen waren die Gärten der Vorstadt draußen armseligen Laubenkolonien gewichen, bis auch diese verräucherten Häusern, rußigen Schornsteinen Platz machten. Berlin war erreicht.
Bis zu dem Bankinstitut hatte Ursel immerhin noch eine Viertelstunde zu Fuß zurückzulegen. Dasselbe befand sich im Herzen der Stadt. Das junge Mädchen beeilte sich nicht sonderlich. Das große Warenhaus von Wertheim, an dem sie vorüber mußte, fesselte mit seinen verlockenden Auslagen ihren für alles Schöne und Elegante nur allzu empfänglichen Blick. Ach, wer sich das alles leisten konnte! Nicht einmal ihre Mutter verstand sie in diesem Punkt. Selbst die begriff es nicht, daß Ursel eine derartige Vorliebe für alle luxuriösen Dinge hatte, und das Kleidsame und Praktische dem verwöhnten jungen Dämchen durchaus nicht genügte. Vronli in ihrer rührenden Einfachheit war wirklich besser dran. Die sehnte sich nicht einmal nach dem tausenderlei Krimskram, welcher der Jüngeren begehrenswert erschien. Die war mit ihrem blauweißgestreiften Schwesternkleid vollständig zufrieden.
Wenn sie in der Bank erst Gehalt bezog, konnte sie sich so mancherlei davon leisten. Zuerst ein elegantes Handtäschchen ... dann Spangenlackschuhe ... vornehmes Parfüm ... seidene Strümpfe brauchte sie auch ... oh, Ursel wußte schon, wie sie ihre Kapitalien anlegen würde. Dazu aber war es vor allem nötig, daß sie Anstalten dazu machte, diese Kapitalien erst mal zu verdienen. Schweren Herzens löste Ursel den Blick von all den märchenhaften Herrlichkeiten und setze ihren Weg in das Geschäftszentrum Berlins fort.
Ein stattliches Gebäude war es, vor dem sie haltmachte.
»Also hinter diesen Mauern soll ich lebendig begraben werden«, dachte sie mit schwerem Seufzen.
Nun, wie ein Gefängnis oder gar wie ein Grabgewölbe sah die Bank wirklich nicht aus. Eine vornehme Fassade, ein reiches Portal, in dem eine vierteilige Glastür in ständig kreisender Bewegung war.
Ursel griff in Cäsars Halsband. »Wie Lohengrin mit seinem Schwan halte ich hier meinen Einzug mit der Töle«, dachte sie belustigt.
Cäsar nahm mit seinem stattlichen Wuchs zu viel Platz in Anspruch. Sie gingen nicht alle beide in ein Türabteil hinein, sondern mußten sich trennen. Dem Hunde, der rotierende Türen noch nicht kannte, war es höchst ungemütlich in dem karussellartigen Ding. Er jaulte herzbrechend durch das trennende Glas zu seiner Herrin hin. Die lachte aus voller Kehle und drehte die Tür nur immer schneller. Sie dachte nicht daran, daß sie als Banklehrling möglichst würdig hier auftreten mußte. In ausgelassenem Übermut drehte sie sich mit dem heulenden Köter endlos im Kreise – immer schneller – immer schneller. – –
»Na, das is ja hier noch schöner! Unsere Bank is doch kein Jahrmarkt nich! Jehen Se doch auf'n Rummelplatz, wenn Sie solche Kindereien treiben wollen. Und halten Sie hier die Leute, die mehr zu tun haben, nich auf!« Die Tür stand plötzlich durch energischen Griff still. Vor Ursel erschien ein schmächtiges Männchen, der Pförtner, der als Zerberus den Eingang bewachte. Jetzt erst bemerkte Ursel, daß sich bereits eine ganze Menge Leute jenseits und diesseits der Tür angesammelt hatten, die hinein oder hinaus wollten, und, teils belustigt, teils murrend, dem goldhaarigen Zeitversäumnis zuschauten.
»Was wollen Sie denn hier überhaupt?« Der Pförtner war davon überzeugt, daß das kindische junge Ding die Tür seiner ehrfurchtgebietenden Bank lediglich als Karussell benutzte. »Hunde haben hier überhaupt keinen Zutritt nich«, versuchte er den immer noch herzbrechend jaulenden Cäsar zu übertönen.
»Ich möchte zu Herrn Bankdirektor Hildebrandt, er erwartet mich«, sagte Ursel, ihr schlankes Figürchen respektheischend emporreckend.
Der Name wirkte wie ein Zauberschlüssel. »Zum Herrn Bankdirektor« – ein Bückling erfolgte – »aber natürlich« – wieder ein Bückling – »bloß – –« der Mann kratzte sich seinen graumelierten Kopf – »erwartet der Herr Bankdirektor denn auch den Köter?«
»Nein.« Als wahrheitsliebendes Mädchen konnte Ursel diese Frage unmöglich bejahen.
»Na, denn jeben Sie'n doch inzwischen bei mir in der Garderobe ab, den Köter; du bist ein braver Kerl, du bist ein schöner Kerl, jawohl – –« Selbst für Cäsar erweckte der Name des Direktors Sympathien.
Dieselben waren leider nicht gegenseitig. Cäsar knurrte den fremden Mann an und schnappte nach seiner streichelnden Rechten.
»Ih, du bist ja ein ganz – –« Weitere Gemütsausbrüche ließen die Beziehungen, welche den Hund oder vielmehr seine Besitzerin mit dem König im Reiche der Zahlen verband, nicht zu.
»Kusch dich, Cäsar!« Ursel befestigte ihren vierfüßigen Begleiter an einen Haken und folgte dem Pförtner über das vornehm ausgestattete Vestibül zum Fahrstuhl. Noch in der zweiten Etage hörte sie Cäsars Jammern hinter sich her. Treppe, Gänge, Türen – ein vielverzweigtes Labyrinth. Schließlich blieb ihr Führer vor einer der Eichentüren, welche den Namen Hildebrandt trug, stehen. »Wen darf ich melden?« fragte er.
»Fräulein Ursula Hartenstein.«
Gleich darauf stand Ursel in einem eleganten, mit dunkelgrauem Plüschteppich ausgelegten Arbeitsraum. Sie empfand keine Spur von Beklommenheit. Mit großen Augen musterte sie den bereits kahlköpfigen Herrn, der ihr entgegentrat.
»Ah, also da wären Sie ja. Hildebrandt – freue mich, die Tochter meines lieben Professors kennenzulernen.« Ursels Hand wurde wohlwollend gedrückt. »Also Sie wollen bei uns als Banklehrling eintreten.« Ursel hatte keine Zeit zu widersprechen, denn der Direktor fuhr bereits fort: »Schönchen. Sie sollen Gelegenheit haben, sich in allem, was zum Bankfach gehört, gründlich auszubilden. Soll mich freuen, wenn Sie sich bei uns wohlfühlen werden.«
»Sicher nicht«, dachte die unverbesserliche Ursel, trotz des freundlichen Empfangs.
»Vielleicht kann ich Sie später, wenn Sie erst mal das Abc des Bankwesens intus haben, zu meiner Sekretärin heranbilden. Aber vorläufig heißt es lernen – lernen – wofür interessieren Sie sich denn am meisten?«
»Für Gesang, besonders für die Oper«, gab Ursel, ohne zu überlegen, zur Antwort.
»Hahaha – na, das kommt für uns hier weniger in Betracht. Ich glaube, Sie hätten vielleicht den Wunsch, in eine bestimmte Abteilung unserer Bank einzutreten. Also kommen Sie, ich werde Sie bekannt machen und in Ihren neuen Wirkungskreis einführen.« Der Direktor sprach schnell in nervöser Hast.