»Versuchskarnickel? Nein, dazu ist mir unser Kleines zu schade. Ich bin für Ganzes, nimmer für Halbes. Mit ernstem Wollen, mit der festen Absicht, ihre Pflicht zu tun, soll sie zur Bank gehen. Dann will ich mich auch nicht gegen die Gesangsstunde sperren. Wohlverstanden, nur für den Privatgebrauch, Annemarie, lediglich zu ihrem Vergnügen.« Der Professor griff jetzt endgültig nach der Zeitung. Er hatte seinen Gleichmut im Gespräch mit seiner Frau wiedergefunden. Frau Annemarie war mit dem Erfolg ihrer Unterredung zufrieden. Nun würde sie auch mit dem Trotzköpfchen, der Ursel, fertig werden. Ach, eine Mutter hat allenthalben zu überbrücken und auszugleichen.
Sie nahm an des Gatten Schreibtisch Platz und griff nach der Kartothek. Die Rechnungen mußten hinaus, das neue Quartal hatte bereits begonnen. Wie sie im Anfang ihrer Ehe Assistentin ihres Mannes gewesen, so war sie allmählich seine Sekretärin, seine rechte Hand bei all seinen wissenschaftlichen Arbeiten geworden. Da war kein Weg, wohin Annemarie ihm in treuer Kameradschaft nicht zu folgen bemüht war.
Zwischen Rezeptblöcken und anderen Formularen schaute ein Brief mit großen steilen Buchstaben heraus. Vronlis letztes Schreiben aus München. Nun war sie schon bald ein halbes Jahr von Hause fort, die Vronli. Die sechs Monate erschienen der Mutter wie die gleiche Anzahl von Jahren. Ein jedes ihrer Küken war ihr gleich fest an das Herz gewachsen; es tat weh, wenn eins sich löste, um eigene Wege, die vom Elternhaus fortführten, zu gehen. Auch mit Vronli hatte es Kämpfe gesetzt. Freilich, nicht so heißblütige, wie soeben mit ihrer jüngeren Schwester. Denn Vronli hatte des Vaters ruhige Art, aber auch seine zähe Bestimmtheit. Sie ließ sich nicht davon abbringen, Säuglingsschwester zu werden, anstatt als Krankenschwester an des Vaters Klinik, wie dieser es wünschte, zu arbeiten. Schon als Kind hatte sie eine Vorliebe gezeigt für alles Schwache, Hilfsbedürftige. Wenn sie die Blumen im Garten pflegte, so galt sicher den wenigst entwickelten, den verkümmerten ihre Hauptsorgfalt. Ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen, hatte sie so lange an ihrem Herzen gewärmt, bis es sich wieder belebte. Hatte man eine Maus in der Falle gefangen, so mußte man sie vor Vronli hüten. Denn die gab ihr unweigerlich die Freiheit wieder. Diese zarte Hilfsbereitschaft für alles Kleine, Schwache machte sie zur Säuglingspflege ganz besonders geeignet. Trotzdem es eine Enttäuschung für den Vater bedeutete, auf die pflichttreue, zuverlässige Hilfe seiner Großen verzichten zu müssen, die Mutter hatte auch hier die gütige Vermittlerin gespielt. Freilich hatte sie nicht damit gerechnet, daß das Küken die Schwingen sogleich gebrauchen und davonfliegen würde aus dem elterlichen Nest. Es gab doch in Berlin genug Säuglingsheime, an denen sie tätig sein konnte. Aber nein – das Glück ist ja stets da, wo man nicht ist. Vronli setzte es mit ruhiger Sachlichkeit durch, nach München an das mustergültige Schwabinger Krankenhaus zu gehen.
Und nun? Sah so das Glück aus? Frau Annemarie entfaltete den engbeschriebenen Bogen und begann den Brief zum soundsovielten Male zu lesen. Irgendwo, wohin grade ihr Blick fiel.
»Es ist abends spät. Ich habe diese Woche Nachtwache. Ihr sitzt jetzt traulich im Wohnzimmer zusammen. Vater raucht seine Zigarre, Mutter flickt unbedingt etwas Zerlöchertes. Ursel hat die Schubertlieder beim Wickel und Hansi heimlich Vaters Zigarettenkasten. Ganz deutlich sehe ich Euch alle vor mir. So gemütlich seid Ihr beisammen, daß man auch ganz gern mal auf ein Stündchen zu Euch auf Besuch käme. Am Tage hat man gar keine Zeit, heimzudenken. Man ist wie eine Maschine, die frühmorgens um sechs in Betrieb gesetzt und abends wieder ausgeschaltet wird. Alles geht hier systematisch am Schnürchen, ein Tag wie der andere. Wenn nicht mein Kalender wäre, der Weihnachtskalender von unserm Urselchen, der mir durch rote Farbe anzeigt, daß wieder mal Sonntag ist, ich würde nicht wissen, daß eine Woche verflossen ist. Abends sind einem die Glieder so schwer, als wären sie wirklich eiserne Teile einer Maschine; man sinkt in sein Bett, knapp, daß man noch die Fähigkeit hat, einen abgerissenen Knopf anzunähen. Aber denkt nur nicht, daß ich mich dabei nicht wohlfühle. Ihr wißt ja, Regelmäßigkeit und pünktliche Pflichteinteilung entspricht meinem – wie Ursel es nennt – pedantischen Wesen. Wie viel Freude gibt einem der Tag. Wie befriedigt ist man, wenn man eins von den kleinen elenden Geschöpfchen, die man meist in jämmerlichem Zustand übernimmt, durch liebevolle Sorgfalt sich entwickeln sieht. Fünfzehn Stück habe ich jetzt zu bemuttern, eine ganze Mandel. Behutsam wie mit Eiern muß man tatsächlich mit ihnen umgehen. Die Windel bildet den Drehpunkt meiner Gedanken. Der Haupttag in der Woche ist der Wiegetag; darauf konzentriert sich alles Hoffen. Vaterle, nach einer glücklichen Operation kannst Du nicht stolzer sein, als ich es bin, wenn die Wiegetabelle die vorgeschriebenen Gramme Gewichtszunahme aufweist. Neulich hat der Chefarzt mich, trotzdem ich dem Dienstalter nach die jüngste Schwester hier bin, als Erfolgreichste aufgestellt. Das spornt von neuem an. – Hier muß ich unterbrechen. Die kleine Gesellschaft meldete sich und wollte frisch gebündelt werden. Nun geht es bereits auf Mitternacht. Ihr seid sicher schon im Bett. Schlaft wohl, Ihr all meine Lieben daheim. Ich will jetzt meine Kinder baden. ›Um Mitternacht?‹ höre ich Euch erstaunt fragen. Vater ist sicher nicht einverstanden damit. Mutti sogar empört, daß man die Kleinen aus nächtlichem Schlaf reißt. ›So erzieht man kein Kind zur Ordnung – ich habe euch drei doch ganz gut imstande gehabt; das Alte ist immer noch das Beste.‹ Habe ich Deine Gedanken erraten, Mutti? Im übrigen bin ich ebenfalls Eurer Ansicht, daß man die Kleinen daran gewöhnen soll, die Nacht durchzuschlafen. Auch finde ich Tagesarbeit angenehmer als Nachtarbeit. Aber der Warmwasserverbrauch hier in dem großen Krankenhaus ist so ungeheuer, daß für unsere Säuglinge das Badewasser nachts entnommen werden muß. Den kleinen Herrschaften selbst ist das ganz gleichgültig. Ihr solltet sehen, wie putzig sie sich an meinen Arm anklammern, wie behaglich sie sich dann in dem warmen Bad strecken, und wie munter sie strampeln. Da quarrt schon wieder eins. Natürlich fällt der Chor pflichtschuldigst ein. Das wird immer gleich epidemisch. Auf ein andermal, meine Lieben.« – – –
Frau Annemarie ließ das Blatt sinken. Sie heftete den Blick auf das Mikroskop, ohne dasselbe zu sehen. War Vronli glücklich in ihrer schweren, verantwortungsvollen Tätigkeit? In dem Brief stand, sie fühle sich befriedigt. Aber eine Mutter liest noch mehr, als die trockenen Buchstaben zu sagen wissen. Vronli hatte Heimweh! Wenn sie sich so hineindachte in den Kreis ihrer Lieben, so heimfühlte ... Gut, daß ihr die unausgesetzte Arbeit keine Zeit ließ zu überflüssigen Gedanken. Gut – und doch wieder nicht. War dies das Richtige für ein junges Menschenkind? Brauchte ein Mädchen von zwanzig Jahren nicht auch geistige Anregungen, andere Freuden, als nur die, welche ihr aus ihrem aufopfernden Beruf erwuchsen? Wenn Annemarie an ihre eigene Jugendzeit zurückdachte ... sie hatte auch fleißig gearbeitet. Zuerst zum Abiturium, ja, aber was hatten sie nebenbei noch alles aufgestellt. Dann die Tübinger Studienzeit mit den Freundinnen, die heiterste und sorgenloseste Epoche ihres Lebens. Und später im Krankenhause das Zusammenarbeiten mit Rudi, das hatte alles, auch das Schwerste verschönt. Da lebte die Vronli nun in der Stadt der Kunst und kam kaum mal heraus aus ihren Mauern. Puh – Ursel in ihrer überschäumenden, lebenshungrigen Jugend hatte sich geschüttelt, als sie Vronlis Bericht gelesen. Krasse Gegensätze waren die beiden Schwestern. Die eine zu schwerblütig, die andere zu leichtlebig. Aber Sorge machten sie ihr alle beide. Frau Annemarie seufzte schwer.
»Nanu, Herzle, plagst du dich mit den Rechnungen herum? Schau, laß das Zeug bis zum Abend, da machen wir es gemeinsam. Am Verhungern sind wir ja noch nicht.« Der Professor war aufmerksam geworden.
»Ach, Rudi, deine faule Frau muß sich schämen. Nichts, gar nichts habe ich geschafft, als nur Vronlis Brief zum ixten Male studiert. Ich bin gar nicht recht befriedigt davon – –«
»Die Hauptsache, daß sie selbst es ist. Mit deinem Hindenken und Sorgen schaffst du nix, Herzle. Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen. Das ist nicht anders. Aber ich mein', unser Trio ist noch ganz gut geraten, wir können zufrieden sein, gelt? Nur den Herrn Musjöh muß ich mir mal langen, der ist mir mit seinem Zeugnis, scheint's, durchgegangen. Und was die Ursel da hergeredet hat, daß der Junge nimmer Medizin studieren mag, wird wohl nicht so arg ernst zu nehmen sein. Die Zeit ist noch nicht gar so lang vorbei, wo