»Muzi – unser Tugendmoppelchen darfst du nicht zum Vergleich mit mir heranziehen. Die ist stets das grade Gegenteil von mir. Brav und sittsam – brrr! Eine Gänsehaut überläuft mich, wenn ich an Vronlis lederne Schulzeit denke. Lieber erinnere dich an deine eigenen Schuljahre, geliebtes Muzerle – Großmuttchen hat mir neulich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß du grade solch Ausbund gewesen sein sollst wie ich. Hahaha – der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum.«
»Ursel, was fällt dir ein! Dein loses Mündchen galoppiert schon wieder mal ohne Zaum und Zügel mit dir davon.« Frau Annemarie versuchte vergeblich die strenge Mutter herauszubeißen. Ursel glaubte ihr das ernste Gesicht, in dem es von zurückgedämmter Heiterkeit zuckte, einfach nicht.
»Muz, streng dich nicht unnötig an. Wenn du deine Stirn mit Falten garnierst, bist du gar nicht mehr meine hübsche, kleine Muzi. Wir sind doch Freundinnen – das hast du von jeher immer zu uns gesagt.«
»Ja, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, mein Kind. Die wünsche ich, eingehalten zu sehen.« Frau Annemarie hatte ihre mütterliche Würde jetzt wieder beisammen. »Tummle dich, Ursel, lege schnell deine Sachen ab. Und dann komm und hilf uns die Wäsche noch vor Tisch zum hundertsten Mal aufhängen. Der Sonne ist heute nicht zu trauen.«
»Ja, Muz, stehe sofort zu Diensten. Aber unter einer Bedingung – daß du mir nachher auch hilfst. Du weißt doch schon – beim Vater –«
»Bedingungen lasse ich mir nicht vorschreiben, Ursel.« Annemarie sah der Davoneilenden mit geteilten Empfindungen nach. Mutterstolz war wohl die stärkste derselben; aber daneben gab es doch auch eine leise Wehmut, daß nun auch ihre Jüngste, ihr Nesthäkchen, die Kinderschuhe heute abgestreift hatte und den Flug ins Leben wagen sollte. Wohin mochte er sie führen? Ach, daß Mutterliebe mit allem Hoffen, allem Sorgen dem Kinde nicht den Weg so dornenfrei zu gestalten vermag, wie man es für seine Lieblinge erfleht.
Annemarie blickte empor in das Geäst der Linde, das sich mit den ersten lichtgrünen Frühlingsperlen geschmückt, weitere Zuversicht, die Grundader ihres Wesens, begann Frau Annemarie wieder zu durchpulsen. Regen und Sonnenschein brauchten die jungen Knospen zum Gedeihen. Sturm, um ihre Standhaftigkeit zu festigen. Warum sollte es bei jungen Menschenknospen anders sein?
Oft sah man die Herrin des Professorenheims da draußen nicht müßigen Gedanken nachhängen. Meist erforderte die Pflicht des Tages ihre volle Schaffenskraft. Auch jetzt gab sie sich einen energischen Ruck. Die Wäsche – Himmel, es begann ja bereits wieder aus dunklen Wolkenaugen zu tropfen. Ärgerlich blickte sie zu den im Schnellzugstempo Segelnden empor. Nun aber endgültig auf den Trockenboden mit dem ganzen Kram. Das sollte ihr einfallen, sich noch länger als Spielball der Aprillaunen gebrauchen zu lassen.
»Ei, Weible, wieder mal tapfer am Werk?« erklang es da hinter der rüstig Schaffenden.
»Ih, du meine Güte, der Herr Professor ist ja schon da!« Trude ließ Wäsche Wäsche sein und jagte ins Haus, eiligst den Tisch zu decken. Denn in Bezug auf Pünktlichkeit verstand der Herr keinen Spaß, so seelensgut er auch sonst war.
»Rudi – wie schön, daß du heute zeitig heimkommst.« Annemaries Augen blickten dem Gatten noch genau so freudig entgegen, wie in den ersten Jahren ihrer Ehe. Sie nahm den ihr zukommenden Kuss in Empfang und strich ihm über das sich bereits lichtende Haar. »Sehr abgespannt, mein armer Mann?«
»Ein bissel schon. Vier Operationen heute vormittag. Hoffentlich bring ich den letzten Fall durch, Mutter von vier kleinen Kindern.«
»Du wirst sie ihnen sicher erhalten, Rudi.« Unbegrenztes Vertrauen sprach aus Annemaries Worten. Ein Vertrauen, das sämtliche Patienten mit ihr teilten. Wenn einer noch helfen konnte, so war es Professor Hartenstein. Seine ruhige, klare Art, seine geschickte Hand bei Operationen hatten ihn zu einem der gesuchtesten Berliner Ärzte gemacht, nachdem sein wissenschaftliches Werk, das er vor Jahren geschrieben, den Grund dazu gelegt hatte, ihn in weitesten Kreisen bekannt zu machen. Annemarie hatte mit ihrem Mann gehofft und gebangt, nun genoß sie in stolzfreudiger Genugtuung die Anerkennung, die ihm zuteil wurde.
Das Mittagessen vereinigte die Professorenfamilie. Auch der filius hatte sich dazu eingefunden. Ein kräftiger Bursch mit krausem Blondkopf und treuherzigen blauen Augen.
»Stelle euch gehorsamst einen Oberprimaner vor«, meldete er.
»Will ich mir halt auch ausgebeten haben – wie ist das Versetzungszeugnis ausgefallen, Hansi?« erkundigte sich der Vater.
»Für bescheidene Ansprüche ausreichend.« Hans pflegte seine Ansprüche betreffs seiner Leistungsfähigkeit stets auf ein bescheidenes Minimum herabzuschrauben. Er strengte sich nicht allzu gern an, der junge Herr.
»Wo hast du denn die Zensur?« Der Mutter kam die Sache etwas verdächtig vor.
Hans suchte in sämtlichen Jackett-, Westen- und Hosentaschen, trotzdem er ganz genau wußte, daß sie sich dort unmöglich vorfinden könnte.
»Wird wohl noch im Mantel stecken, der Wisch,« meinte er schließlich gleichmütig, sich den Teller zum zweiten Male füllend.
»Du, hör mal, Hansi, ich fürcht' halt, du hast die richtige Bezeichnung für das Schriftstück gebraucht.« Der Vater zog die Augenbrauen hoch. »Was für ein Prädikat hast du in Latein und Griechisch?«
Solch eine direkte Frage war höchst peinlich. Besonders wenn man es sich gerade schmecken ließ. »Ich erinnere mich nicht mehr genau – es wird wohl genügend gewesen sein. Hauptsache, man ist mit durchgerutscht.«
»Das ist noch ein recht unreifer Standpunkt, Hansi. Die Hauptsache bleibt halt immer, man leistet etwas Tüchtiges, in der Schule sowohl, wie im Leben. Die Bewertung durch die andern, das kommt erst in zweiter Reihe.« Wie Professor Hartenstein an sich selbst die höchsten Ansprüche in Bezug auf Pflichterfüllung stellte, so verlangte er das auch von seiner Familie.
»Unser Kleines hat ein überraschend gutes Abgangszeugnis heimgebracht, Rudi,« lenkte Annemarie, die stets überall auszugleichen bestrebt war, von dem heiklen Thema, das ja bis nach Tisch Zeit hatte, ab.
»Das Ursele – der Tausend. Laß schauen, Kind.« Ursel war von jeher der erklärte Liebling des Vaters. Glich sie doch seiner Annemarie äußerlich und innerlich am meisten.
»Vaterle, ich hab' die Gesangsprämie bekommen, und nun mußt du mir auch etwas versprechen, – auch eine Belohnung, ja? Tust du es?« Schmeichelnd bestürmte das junge Mädchen den Vater, ihm das Abgangszeugnis überreichend.
»Nun, auf ein Konzert- oder Theaterbillett soll mir's nicht ankommen, Kleines.« Lächelnd blickte der Professor auf sein hübsches Töchterchen. »Schau – schau – in Mathematik gut. Und da behauptete die Krabbe, nimmer rechnen zu können. Dein künftiger Bankchef wird es dir halt beibringen.«
»Das wird mir kein Mensch beibringen, das olle lederne Zeug«, widersprach Ursel erregt. »Und zur Bank gehe ich überhaupt nicht. Ich hab' die Gesangsprämie bekommen, und ich will zur Oper!« Mit blitzenden Augen rief's Ursel.
»Hahaha« – der Vater und Hansi lachten um die Wette. »Hahaha« – wenn der eine aufhörte, fing der andere an. »Also Operndiva willst du werden, Kleines? Der ›Star‹ von Lichterfelde – ein Kapitalmädel!« Ursel mußte es sich gefallen lassen, weidlich ausgelacht zu werden.
Sie ballte die Hände vor Zorn. »Lacht nur, ihr werdet es ja sehen, daß es mir Ernst damit ist. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ich eigne mich nicht dazu, den Kontorbock zu reiten. Mutti, liebste, einzige Muzi, hilf du mir doch. Du weißt es ja am besten, wie gräßlich mir solche trockene, kaufmännische Tätigkeit sein würde, daß ich nur glücklich werden kann, wenn ich mich meiner geliebten Musik widmen darf.« Ein heftiger Tränenausbruch erfolgte.
Annemarie zog ihr erregtes Nesthäkchen liebevoll schützend zu sich heran. »Vor allem werde mal ruhiger, Kind. Mit deiner spontanen Heftigkeit richtest du gar nichts aus. Der Vater wird mit sich reden lassen.« Bittend blickte sie zu ihrem Manne hinüber.
Selten