»Geh nur erst mal, Ursel, mit dem Heimkehren hat es wirklich noch Zeit.« Selbst die Mutter, deren Tugend Pünktlichkeit niemals gewesen war, setzte Ursels Saumseligkeit in gelinde Aufregung.
»Ursel, es ist mir geradezu peinlich, wenn du meinen Freund, den Bankdirektor Hildebrandt, der dich liebenswürdigerweise, ohne jede Vorkenntnisse, nur mit dem Schulreifezeugnis in das Bankfach eintreten lassen will, gleich am ersten Tag durch Unpünktlichkeit enttäuscht. Das wirft halt ein schlechtes Licht auf die Zuverlässigkeit meiner Tochter.« Professor Hartenstein war auf die Veranda hinausgetreten und zog stirnrunzelnd die Uhr.
»Das wird nicht die einzige Enttäuschung sein, die ich ihm bereite.« Die Ursel war wirklich ein ungezogenes Ding. Ungeachtet all ihres Liebreizes konnte es sich Frau Annemarie nicht verhehlen. Ja, es zuckte sogar in der mütterlichen Rechten wie früher, wo es rasch mal einen Klaps bei Annemaries impulsiver Art gesetzt hatte. So weit kam es heute nicht. Im Gegenteil, Ursel küsste die Mutter so zärtlich, als gelte es einen Abschied für Jahre. Dann bekam auch der Vater seinen Kuss. »Leb wohl, du Rabenvater«, – leichtfüßig sprang sie die Stufen zum Garten hinab, taufrisch wie der junge Maimorgen.
»Ein Mordsmädel – na, dir werden sie die Flötentöne im Ernst des Berufslebens schon beibringen.« Mit Vaterstolz blickte Rudolf Hartenstein, trotzdem er noch eben ärgerlich festgestellt hatte, daß Ursel den in zweieinhalb Minuten abgehenden Zug unmöglich mehr erreichen konnte, seiner hübschen Jüngsten nach.
»Gut, daß ich ihr eine halbe Stunde früher angegeben habe, als sie tatsächlich antreten soll. Ich hab' halt schon mit ihrer ererbten Unpünktlichkeit gerechnet.« Annemarie kam nicht dazu, auf die Neckerei ihres Mannes zu entgegnen. »Cäsar – hierher – hierher – Cäsar – –«; der Professor pfiff dem Hunde, der fröhlich blaffend seiner jungen Herrin nachsetzte.
Cäsar war ebensowenig folgsam wie diese. Er stellte sich taub gegen die befehlende Stimme seines Herrn. Nur um so rasender jagte er davon, an Ursel vorüber bis zur nächsten Straßenecke, wo er sie, triumphierend mit dem Schwanze wedelnd, erwartete.
»Zurück, Cäsar – geliebte Hundetöle, ich darf dich doch nicht in meinen Kerker mitnehmen!« Zärtlich klopfte Ursel den Hals des vierbeinigen Freundes.
Tü–i–i–i–i–i–i – ein schriller Lokomotivschrei.
»Fort ist sie – haste nicht gesehen!« Mit Gemütsruhe blickte Ursel der in einiger Entfernung davondampfenden Eisenschlange nach. »Na, denn nicht! Es ist entschieden angenehmer, hier in den Anlagen auf der Bank den schönen Morgen zu genießen, als in der Dresdner Bank über Zahlen zu schwitzen. Also ein Viertelstündchen können wir noch beisammen bleiben, Cäsar. Aber dann bist du brav und trollst dich heim, gelt? Schau, eine Bank ist ein ebenso gräßliches Institut wie eine Schule, da lassen sie dich nicht hinein, meine geliebte Töle.« So unterhielt sich Ursel mit Cäsar, der mit klugen Augen zu ihr aufblickte.
Aber bei all seiner Hundeintelligenz hatte er doch wohl nicht so recht begriffen, daß seine junge Herrin einen ebenso ernsthaften Weg ging, wie früher in die Schule. Sie trug ja keine Ledertasche mit Schulbüchern, folglich stand es ihm frei, ihr das Geleit zu geben. Nur die Schultasche hielt Cäsar in respektvoller Entfernung.
Vergeblich schauten der Professor und Frau Annemarie bei ihrem gemeinsamen, jetzt nur noch durch melodischen Vogellaut unterbrochenen Frühstück nach dem Durchgebrannten aus.
»Du, Rudi, die Ursel wird den Köter doch nicht etwa in ihren neuen Wirkungskreis mitnehmen?« meinte die Gattin schließlich bedenklich.
Rudolf Hartenstein lachte. »Da brauchst dir keine grauen Haare drum wachsen zu lassen, Herzle. So arg treibt's die Ursel nimmer. Das wagt sie bei all ihrem Übermut, all der Keckheit, die sie von ihrer Frau Mutter geerbt hat, doch wohl nicht. Ein wenig Verständigkeit wird sie ja auch wohl von mir mitbekommen haben.« Bei jeder Gelegenheit zog der Professor seine Frau mit ihrem jungen Ebenbild auf und freute sich, wenn sie lebhaft Einspruch erhob.
»Als ob ich jemals ein so unvernünftiger Springinsfeld gewesen bin, Rudi. Das heißt, unser Puck, Gott habe ihn selig, hat mir auch am ersten Schultag das Geleit in die Klasse gegeben und dort große Revolution verursacht.«
»Also schau, wie die Alten sungen, zwitschern die Jungen«, neckte der Professor weiter.
»Aber nein, die Ursel ist ja doch zehn Jahre älter, als ich damals gewesen, die muß doch verständiger sein. Wenn sie ihn bloß heimschickt, den Cäsar. Er müßte doch schon längst zurück sein, meinst du nicht, Rudi?«
»Wird halt auch Frühlingsgefühle haben und zarte Fäden zu irgendeiner Hundeschönen anspinnen. Ein Köter hat schließlich auch eine fühlende Brust. Weißt, Weible, an solchem wonnigen, sonnigen Maimorgen werden selbst so alte Eheleut, wie wir zwei beid, wieder jung, gelt, meine Alte?«
»Na, erlaube mal!« Energisch machte sich Annemarie aus dem sie umfangenden Arm Rudis frei. »Alte – ja, das kommt davon, wenn eine junge Frau einen alten Mann heiratet, der bald sein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat. Ich fühle mich heute noch genau so jung wie damals, als uns die Obstbäume hier in unserem lieben Nest zum erstenmal mit ihrem rosigen Blütenregen überschütteten, als noch der verschleierte Wiegenkorb mit irgendeinem quäkenden Etwas unter der maigrünen Linde stand. Wenn die erwachsenen Kinder nicht wären, die einem unbarmherzig den Zeitenspiegel vorhalten – ich glaube, ich wäre sogar fähig, noch dieselben Dummheiten zu machen wie dereinst.«
»Sag ich's nicht, solch Maimorgen wirkt verjüngend wie ein Jungbrunnen. Da sitzen und schwatzen wir, als ob wir noch in den Flitterwochen wären, anstatt uns in den Kampf des Lebens zu stürzen. ›Auf in den Kampf, Torrero‹«, die Melodie aus »Carmen« pfeifend, begab sich der Professor zur Frühsprechstunde.
»Die musikalische Ader und die Vorliebe zur Oper hat die Ursel nun schon ganz gewiß vom Rudi. An dieser erblichen Belastung bin ich, dank meines unmusikalischen Sinnes, gottlob schuldlos. Die kommt auf Rudis Konto«, frohlockte Annemarie. Ehe sie selbst sich an die vielverzweigte Arbeit des Haushalts, die ihrer wartete, begab, trat sie noch für einige Minuten an das Gartenportal, ob denn Cäsar sich noch immer nicht zeigen wollte. Straßauf, straßab kein braun geflecktes Fell, kein Cäsar zu erblicken. Lichtgrüne Wipfel, Sonnengespinst, Vogelgezwitscher und Insektengesurr.
Bis zur letzten Minute hatte Ursel in den Bahnhofsanlagen den schönen Maimorgen genossen. Erst als der nächste Zug in die Station eindampfte, verfiel sie in Trab. Sie konnte gerade noch in den sich bereits langsam wieder in Bewegung setzenden Zug hineinspringen. Und hinter ihr sprang es, trotz ihres »Zurück, Cäsar!« hinein mit vier braunen Hundebeinen, trotz des lauten Protestes des an der Sperre stehenden Beamten: »Der Hund hat ja keine Fahrkarte!« Drin war er, der Cäsar, zur nicht besonderen Freude der Fahrgäste sowohl wie zu Ursels eigener.
»Der Hund gehört ins Hundeabteil – solch großen Köter dürfen Sie überhaupt nicht hier mit reinbringen, der belästigt ja die Mitfahrenden«, beschwerte sich ein älterer Herr, der augenscheinlich noch nicht recht ausgeschlafen hatte. Er schaute ebenso scheel auf den gemütlich sich an sein Knie schmiegenden Cäsar, wie in den Frühlingsmorgen hinaus.
»Ich kann nichts dafür, wenn die Töle hinterdrein kommt«, verteidigte sich Ursel, trotzdem sie ebenfalls ganz und gar nicht von Cäsars Gesellschaft begeistert war. »Und überhaupt – wenn hier kein Hundeabteil ist, ein Raucherabteil ist es ebenso wenig.« Mit nicht mißzuverstehendem Blick schaute sie von der dampfenden Zigarre des unfreundlichen Herrn zu dem Schild »Nichtraucher«.
»Na, nu hört sich ja wohl Verschiedenes auf!« Mit grenzenlosem Erstaunen sah der Herr auf das junge Persönchen, das sich so keck zur Wehr zu setzen wußte. »Ja, das ist die Jugend von heute – keinen Respekt mehr vor dem Alter – ja, ja, dann ist es natürlich kein Wunder – –«
Was kein Wunder war, wurde von einer großen Dampfwolke, die er ingrimmig hervorstieß, verschlungen.
»Herrjott, der Hund is doch keene wilde Bestie nich, vor den brauchen Se sich doch jar nich so zu haben«, schlug sich ein Mann in blauer Arbeitsbluse auf die Seite des hübschen