6. … und das Meer spricht Englisch
Nach vollen drei Wochen auf See ohne besondere Vorkommnisse steuerten wir ohne Umwege auf die amerikanische Ostküste zu. Das hieß allerdings, nicht ganz ohne besondere Vorkommnisse, denn eines war schon erwähnenswert, um nun erzählt zu werden.
Wir begegneten zuerst zwei britischen Walfängern, dann drei britischen Handelsschiffen, und zuletzt zwei Fregatten der britischen Kriegsmarine, die sogleich ihre Geschützpforten öffneten. Wo waren die anderen Seefahrer abgeblieben? Wo trieben sich die Franzosen, Spanier, Portugiesen, Holländer oder Schweden herum.
„Reiner Zufall“, meinte Kapitän Broder beschwichtigend, doch er wusste, warum wir mit der verstärkten Präsenz des Vereinigten Königreichs konfrontiert wurden. Wir hatten vorsichtshalber und aus gutem Grund den Union Jack aufgezogen. Man wusste nie, was passieren würde. Wir erledigten einen englischen Auftrag von Fishbone & Sons und fühlten uns berechtigt, ja sogar verpflichtet unter dem sichersten Banner der Welt zu segeln. Die Begegnung mit der britischen Marine machte mir nochmals allzu deutlich wie es sich anfühlte Amerika ein zweites Mal im Kriegszustand erfahren zu müssen. Entgegen meiner bekundeten Absicht, das Land wieder unter diesen Bedingungen aufzusuchen! Es würde nicht die letzte bedrohliche Situation sein, soviel war uns gewiss. Der Auftrag der nahen Kriegsschiffe, die Versorgung Neufrankreichs zu unterbinden, brachte häufige Begegnungen mit Briten auf See mit sich. Doch diesmal hatten wir bessere Voraussetzungen im Gepäck.
In der vierten Woche sahen wir das mit Wolken verhangene Festland, aus denen die Sonne vereinzelnd ihre intensiv flutenden Strahlen schickte. Plötzlich tauchte steuerbordseitig eine Brigg auf, die überraschend auf uns zu hielt.
„Alle Mann an Deck!“, krächzte Kapitän Broder, der sein Schiff schon sicher im nahe liegenden Bostoner Hafen sah. Jan rannte auf seine alten Tage mit dem Fernrohr auf das Achterdeck, um die Nationalität des Seglers festzustellen. Der Ausguck konnte bisher nichts erkennen.
„Ich kann die Identität der Brigg nicht ausmachen, Kapitän!“, rief er Broder entgegen. Inzwischen verteilte Hinrich die Handfeuerwaffen. Hannes und Alfred machten die vier Steuerbordkanonen klar zum Gefecht. Sie hatten an der gebotenen Schnelligkeit nicht eingebüßt, die unter Umständen das Leben sicherte. Der 2. Steuermann Jaspar hatte indes die britische Flagge erkannt. Aufatmen! Die Matrosen rafften die Segel des Groß- und Besanmastes.
„So schnell waren sie auf dieser Fahrt noch nicht in den Wanten!“, rief ich zu Hinrich. Der Kapitän nahm der Konstanze die Fahrt und ließ die Segel brassen, um dem herannahenden Dreimaster mit doppelter Kanonenzahl unsere defensive Haltung zu signalisieren. Kapitän Broder musste sogar den Kurs ändern. Sonst hätte es zur Kollision kommen können. Die Brigg änderte keineswegs den Kurs und segelte haarscharf in voller Fahrt an unserem Heck vorbei, um schließlich eine Halse zu drehen. Die Briten ließen uns eindrucksvoll spüren, wer in diesen Gewässern der Herr ist. Obwohl die kleine Brigg nicht unbedingt zum Fürchten aussah, riskierten wir keinen Hochmut. Sie holten bald auf und verweilten längsseits zum üblichen Palaver unter Seeleuten. Peter teilte seinen Landsmännern im feinsten Londoner Englisch mit, was wir geladen hatten, und welche Bestimmung die Ladung in Boston hatte.
„Immerhin haben sie diesmal nicht gleich geschossen“, raunzte Broder anschließend in seinen weißen Bart. Die Hafeneinfahrt war in Sichtweite und die britische Brigg drehte ab, zum womöglich erneuten Auflauern der nächsten Ankömmlinge vor der Küste Massachusetts.
„Eins muss man ihnen lassen, sie holen aus den bestehenden Möglichkeiten das absolut Erreichbare heraus“, sinnierte Hinrich voller Bewunderung für die Purzelbäume der Briten auf See, die wir eben bestaunen durften.
„Ja, ja, das Meer spricht Englisch!“, rief ich Kapitän Broder, Hinrich und Peter Fishbone zu. Sie lachten, weil die vielen Begegnungen mit Briten auf den Meeren tatsächlich eine eigene Sprache beinhaltete, die alle anderen zunächst in Schrecken und auch oft in Seenot versetzte. „Peter kannst du uns was über Boston erzählen. Du warst doch bestimmt schon einmal hier?“, fragte ich Mister Fishbone, dessen Ängste vor Kanonendonner noch nicht verflogen waren. Nebenbei überspielte ich so meine eigene Furcht, die mir seit dem Vorfall in den Gliedern saß. Die Erinnerungen an Begegnungen dieser Art entflammten in mir, als wäre die erste Walfangfahrt samt allen Gefahren gestern gewesen. >Und so ein Kerl will sich feindlichen Indianern gegenüberstellen und seinen Cousin Jacob retten<, dachte ich mit Grausen und überlegte mir, was ich da eigentlich, wie vom Wahnsinn getrieben, vorhatte.
„Nur aus zweiter Hand kann ich etwas erzählen, Caspar. Ein Besuch in Boston blieb mir zwar verwehrt. Mein Vater Mortimer war ein paar Mal hier, sonst wären die Handelsbeziehungen nicht die, die sie schließlich geworden sind. Also, ich versuch es mal. Vor uns seht ihr einen richtigen Naturhafen. Um die Bucht von Boston befinden sich zerklüftete Gesteinsformationen, die, wie man sieht, sichelförmig ausgerichtet sind und für Sicherheit und ruhiges Gewässer innerhalb des Hafens sorgen. Sie bremsen die Naturgewalten ohne, dass die Menschen selbst Hand anlegen müssen. Deshalb zählt Boston zu den natürlichen Keimzellen der englischen Kolonisation in Amerika. Bereits 1630 gründeten die Puritaner diesen Ort an der Massachusettsbay, der sich schnell zum bedeutendsten Handelsposten und Umschlagplatz entwickelte. Allerdings wurde die erste Kolonie 1620 durch die Pilgerväter in Plymouth gegründet, die zuvor aus England fliehen mussten, weil sie sich von den Anglikanern, unsere englischen Protestanten, abspalteten. Auch Plymouth` Institutionen zählen zur Massachusetts-Bay-Company, die den Handel tatkräftig organisiert.“
„Was sind Puritaner, Peter?“, wollte Arian wissen, der schnell begriffen hatte, dass er zu den Auserwählten gehörte, die sich demnächst in der Neuen Welt mit den hier lebenden Menschen zurechtfinden musste.
„Das sind Abweichler der reformierten anglikanischen Kirche in England, die sich im Gegensatz zu den Pilgern aber nicht abspalteten. Also Protestanten, die ihrerseits protestierten, äh … nah, so ähnlich jedenfalls. Sie spalteten sich von der Abspaltung ab. Ist auch nicht besser, was?“
„Doch, doch, ich hab dich schon verstanden, Peter. Vielleicht könnte man sagen, Puritaner sind die französischen Calvinisten!“
„Das werden die wiederum nicht gerne hören, Caspar. Egal, aufgrund der Entfernung zur englischen Mutterkirche ist indes von einer Veränderung der Kirche, auch und vor allem in der gesamten Lebenseinstellung in der Neuen Welt zu hören. Die Menschen haben hier einfach andere Probleme, als in England. Grundsätzlich kann ich mit Gewissheit sagen, dass die Unterschiede zum Katholizismus der Franzosen beträchtlich sind. Ihre verachtende Haltung uns gegenüber rührt eben auch daher, sonst würden sie uns nicht als Ketzer beschimpfen.“
„Die verachtende Haltung der Briten gegenüber den Franzosen sollte aber keineswegs unterschätzt werden, Peter!“, entgegnete ich mit fester Stimme. Schließlich pachteten beide keine moralische Instanz, die dem Gegner alle Rechte auf Selbstbestimmung absprachen. Hier war einzig und allein Toleranz gefragt. Ein Begriff, der im Krieg natürlich nichts zu suchen hatte, und deswegen auch nicht dieser Tage über meine Lippen kam. Städte wie Altona oder Wandsbek hatten gezeigt, was religiöse Toleranz bedeutete. Nämlich ein friedliches Miteinander unterschiedlichster Religionen auf kleinem Raum. Da konnte sich auch Hamburg noch viel abgucken, da sie in der Konsequenz intoleranter waren und Einzelfallentscheidungen bevorzugten.
„Alles klar zum Festmachen“, brüllte Jan, der den Kapitän vertrat. Ein gut geordneter Hafen lag uns zu Füßen. Schaute man von der Konstanze auf die Stadt, ragte eine bebaute Landzunge mittig in die Bay und teilte den Hafen in zwei Hälften. Die Stadt hatte in ihrer kurzen Schaffenszeit beträchtliche Ausmaße angenommen. Die vielen Kirchtürme wiesen auf rege religiöse Anteilnahme der Bevölkerung hin. Felsenartige Kegel im Stadtgebiet sahen wie emporgeschossene Pilze aus. An einigen Felsen trugen Arbeiter Gesteinsmassen ab, um die Landgewinnung im Stadtgebiet voran zu treiben.
Der Hafenmeister wies uns an, unser Schiff längsseits der dominierenden großen Überseebrücke festzumachen. Neugierig kamen die Menschen zusammen. Man fragte sich, was ein fremder Walfänger am Anfang der Saison hier zu suchen hatte. Noch dazu in dieser Farbe! Kapitän Broder und Peter Fishbone besprachen mit dem Hafenmeister die Formalitäten. Die Briten durchsuchten das Schiff. Schließlich