„Es bleibt dabei, ich fahre zur Rettung Jacobs nach Amerika. Mit deinem Segen oder meinetwegen auch ohne!“ Es flogen ein paar Türen in unserem Hause und es flossen wohl auch ein paar Tränen. Ich war mir sicher das Richtige zu tun, auch wenn es über Lisas Tellerrand hinausging.
Niemand in der Familie wollte für Jacob ein Todesurteil ausstellen, und so stimmten sie mit einer gehörigen Portion Zweifel für meinen Vorschlag. Zu meiner Überraschung meldete Hinrich anschließend seine Teilnahme am Walfang an. Er hielt an seinem Vorhaben fest, trotz aller Umstände, die seitdem sich zugetragen hatten. Konstanzes Schwangerschaft hatte ihn lange überlegen lassen, ob er die Reise tatsächlich antreten sollte. Schweren Herzens akzeptierten die Frauen später unsere Entscheidung, die wegen der Dringlichkeit keinen Aufschub vertrug. Hinrich und ich hätten nicht nach alledem einfach zur Tagesordnung übergehen können. Darauf komplettierten wir die Mannschaft des Walfängers und organisierten unsere Abwesenheit bei Kock & Konsorten. Selbstverständlich fanden sich fähige Bedienstete, die uns währenddessen vertraten, dachten wir zumindest. Vater musste genauso wie sein Bruder in La Rochelle wieder alle Bereiche mit Konstanze und Lisa alleine regeln. Familie blieb doch immer noch Familie, bis wir eines Besseren belehrt wurden.
Ein paar Tage später erreichten mich mit einem Handelsschiff aus Frankreich gleich zwei Briefe. Im Ersten erhielt ich Nachrichten aus Quebec von meinen Freunden Jean-Claude Aimauld und Maurice Martier. Der Brief war ein dreiviertel Jahr unterwegs, doch erstaunlicherweise fand er seinen abenteuerlichen Weg hierher zum Zielort nach Hamburg. Vor Aufregung und Freude zitterten mir die Hände Ich las direkt daraus vor:
Werter Gefährte und Freund Caspar Kock!
Solltest Du die Heimreise gut überstanden haben, vermuten wir Dich in Deinem Kontor bei der Arbeit. Auch wir kehrten noch im Jahr unserer Begegnung zurück nach Quebec. Allerdings erst kurz vor Neujahr, der Schnee meinte es gut mit uns. Bis zu den Wasserfällen gab es keine besonderen Vorkommnisse. Am Ausgang des Niagara am Fort zum Ontario See wartete ein Lastensegler gerade noch auf uns, sodass uns eine weitere Kanufahrt erspart blieb. Du weißt, wie sehr ich den Wind und die hohen Wellen des Sees hasse! Das Schiff transportierte Soldaten, die vor einem halben Jahr Fort Duquesne verstärkt hatten und nun rückverlegt wurden. Plötzlich setzte starkes Schneetreiben ein, und der Wind ließ nach und wir krochen über den See. Genauso unerwartet stießen wir mit einer Irokesenflotte von mehr als 30 Booten zusammen. Sie wollten wahrscheinlich die verfeindeten Ottawas, die wir damals zusammen besucht hatten, am Nordufer des Ontario einen Besuch abstatten. Die Indianer waren allerdings ebenso überrascht jemanden zu begegnen wie wir. Die geballte Feuerkraft, der auf dem Segler befindlichen Soldaten, konzentrierte sich auf den Beschuss der Bootskörper. Schon kurz darauf fluteten die ersten Kanus und das eiskalte Wasser sparte jede weitere Kugel. Die Senecas, die am Südufer des Sees beheimatet und Teil der Irokesen - Nation sind, waren nun mit sich selbst beschäftigt und mussten wegen der Verluste ihren Kriegszug beenden. Ausgesprochene Schadenfreude kannte keine Grenzen! Die armen Teufel haben das eiskalte Wasser lange nicht überlebt! Von Fort Frontenac aus, brachte uns das Postboot nach Montreal. Dort stiegen wir in ein Kanu und fuhren stromabwärts nach Quebec, wo wir zugleich Irina und Peter frisch verheiratet antrafen. Auch Louis, Elchblitz und Jean waren wohl behalten zurückgekehrt. General Paznac teilten wir eiligst mit, dass die Depeschen für den König mit Dir an Bord der„ Nantes“ nach Europa auf dem Weg seien. Jacob lässt Dir ausrichten, dass er im Frühjahr nachhause kommen wolle - mit Julie! Die Abramovic` hatten wir, genauso wie Dr. Fabiues nicht angetroffen, somit können wir Dir von ihnen nichts Neues berichten. Nach wie vor denken Maurice und ich an unseren Ruhestand. Doch an ein Ende der Dienstzeit ist, solange der Krieg uns in Atem hält, nicht zu denken. Im Gegenzug hat uns General Paznac nach unserer Ankunft zum Capitaine befördert. Wir sind jetzt gegenüber der Stadt, im kleinen Levy stationiert, am Südufer des Sankt Lorenz. Der Weinanbau im Ohiotal muss also noch warten. Damit muss leider auch Kock & Konsorten auf einen erlesenen Tropfen warten, genau wie die ganze restliche Welt!
Wir grüßen Dich mit Hochachtung sowie Deine Familie unbekannterweise -
Die Dir treuen Freunde und Weggefährten -
Adieu
Maurice und Jean-Claude
Meine Neugierde ließ mir in diesem Moment nicht die Zeit, über den Brief lange nachzudenken. Doch ich spürte ein Glücksgefühl und große Freude von Ihnen Gutes gehört zu haben. Hastig öffnete ich den Zweiten. Ich hatte längst den Absender entziffert. Es war Madame Geraldine Fabiues aus Paris, die Gattin des Anthropologen, den ich in Amerika kennenlernte. Auch diesen Brief hatte ich all die Jahre aufbewahrt:
Werter Herr Kock!
Mit großer Freude las ich Ihre freundlichen Zeilen, zunächst ungeachtet der ebenfalls erfreulichen Tatsache, auch von meinem Mann endlich ein Lebenszeichen erhalten zu haben.
Obwohl Ihre Begegnung mit ihm nur von kurzer Dauer sein sollte, haben Sie einen beachtlichen, wenn nicht sogar nachhaltigen Eindruck bei meinem Gatten, François Fabiues hinterlassen (und er hoffentlich bei Ihnen!). Das gelang noch nicht vielen Menschen. Sie haben mit Ihrem Brief an mich meinen Eindruck bestätigt, nämlich, dass François mit seiner einsamen Aufgabe auf verlorenem Posten steht. Wie soll auch ein Einzelner die Gräber und Kulthügel der vorvorzeitlichen Ureinwohner in Amerika erforschen, wenn alle anderen mit der Verteidigung Neufrankreichs beschäftigt sind, dem nackten Überleben, beziehungsweise die Plünderung des Refugiums? Ich hoffe, mein Mann sieht bald ein, dass er lediglich gegen Cervantes‘ Windmühlen kämpft, obgleich der Urgedanke von edler Beschaffenheit ist und im Friedensfall wieder aufgenommen werden sollte. Wie denken Sie darüber, lieber Herr Kock?
Sobald ich Neuigkeiten erfahre, werde ich Ihnen wieder schreiben. Sollten Sie wiederum meinem Mann schreiben wollen, schicken Sie mir Ihre Zeilen bitte zu. Ich werde sie ihm mit meinem Schreiben schicken, wenn es Ihnen recht ist. Hoffentlich kommt François bald zurück. Ich bin in ständiger Sorge, dass er sich dort zu sehr verausgabt. Vielleicht können wir uns später einmal kennenlernen. Ich würde mich sehr freuen. Eine Einladung, nach Paris zu kommen, haben Sie bereits jetzt schon von mir! Wir wohnen vis-à-vis unserer schönsten Kirche, der Notre-Dame, am linken Seine-Ufer auf der Höhe der Inselbrücke. Können Sie gar nicht verfehlen.
Hochachtungsvoll und in tiefer Zuversicht,
Geraldine Fabiues
Der Brief von Jean-Claude und Maurice hatte die Erzählungen des Bootsmanns Jan bestätigt. Schön war es nochmals zu erfahren, dass alle nahestehenden Personen das Jahr 1755 gut überstanden hatten, nach den kriegerischen Ereignissen und lebensbedrohenden Situationen, die wir miterleben mussten. Gleichwohl konnte ich zur Kenntnis nehmen, dass das Interesse von Jean-Claude Aimauld und Maurice Martier den Kontakt und die entstandene Freundschaft aufrecht zu erhalten, ungebrochen schien. Ebenfalls betraf es das besondere Verhältnis zu Dr. Fabiues und seiner Frau Geraldine. Sie hatte mit ihrer Einschätzung der Lage nicht ganz Unrecht. Doch was scherte einen Wissenschaftler seines Schlages die Vernunft der Stunde, wenn es möglich war, nochmals Großes zu vollbringen. Vor allem neue einzigartige Erkenntnisse zu gewinnen. Auch Geraldine Fabiues hatte das unbarmherzige Los, sich täglich zu sorgen und es gab nur eine Maßnahme, die es hätte ändern können - seine zeitnahe wohlbehaltene Rückkehr!
Cortez, der sich inzwischen zum geliebten Familienhund entwickelt hatte, sollte auf meine Lisa aufpassen. Sie zog im März 1757 zu Vater und Konstanze in die Katharinenstraße, als wir bereits Richtung England unterwegs waren. Einen Tag vor unserer Abfahrt kamen die Leinenballen aus Schlesien auf abenteuerlichen Wegen in die Stadt. Die Händler konnten dem Kriegstreiben der Preußen gerade noch entkommen. Das benachbarte Sachsen war von Friedrich II. im Sturm genommen worden. Bereits zweimal hatten die Preußen mit Österreich um Schlesien gekämpft. Deswegen mussten die Leinenhändler eine strapaziöse Ausweichstrecke wählen, da die Elbe als Transportweg nicht mehr für die Zeit infrage kam, und Friedrichs Truppen geradewegs im Anmarsch waren. Der Krieg breitete sich in Europa also weiter aus und England und Frankreich standen sich nach wie vor gegenüber. Wenn auch nicht Mann gegen Mann in Europa, so wie sie in Übersee manchmal kämpften. Es war in Amerika und auf den Weltmeeren in absehbarer Zeit nicht mit Entspannung zu rechnen.
Zu