Doch ich wollte keine Skepsis: „Wir haben eine Chance sie lebend vorzufinden. Das ist doch was. Lass uns aus dem positiven Ende der Geschichte die Kraft schöpfen, die nötig sein wird, Peter.“ Ich wandte mich anschließend an unseren Gastgeber.
„Wir danken ihnen, Mr. Smith. Meine Hoffnung, Jacob und seine Freunde lebend zurück zu bekommen, ist durch ihre Ausführungen genährt worden. Fragen sie bitte ihren Freund nach einer Fahrt an den Kennebecfluss. Mir scheint der Weg von Albany an den Chaudière sehr weit zu sein, zumal der kürzere Weg schon knapp 400 Kilometer beträgt. Darum möchte ich von Portland Richtung Kanada vorstoßen und südlich von Quebec am Chaudière mit der Suche beginnen, wo letzte Spuren der vermissten Gruppe entdeckt worden waren.“ Zu guter Letzt hatte Benjamin Smith wegen der Entführung seiner Cousins doch noch begriffen, dass wir ohne entsprechende Hilfe unserem Vorhaben aussichtslos gegenüberstanden und er seiner Christenpflicht genügen musste. Er wird uns deswegen nicht mehr mögen, als vorher, aber er schien sich an seine eigene Zeit der Ungewissheit erinnert zu haben, die man vielleicht nicht einmal gewöhnlichen Ketzern oder anderen Ungläubigen wünscht.
Als 1754 die ersten Gefechte um das Ohiotal entbrannten, sprach sich bald auch in Massachusetts herum, dass die Niederlage Washingtons bei Fort Necessity nur der Anfang eines großen Krieges um Amerika war. Das Gerangel der Kolonialmächte dauerte bereits eine ganze Weile, bis der letzte Funke endgültig einen langen entscheidenden Krieg um Nordamerika in Gang brachte. Die Boston-Bay-Company versuchte, dünn besiedelte Gebiete dem unaufhörlichen Siedlerzustrom zugänglich zu machen. Sie beschleunigte den Ausbau der Handelsstationen an den großen Wasserläufen Neuenglands, die wesentlich zur Attraktivität des inneren Kontinents beitrugen. Die mächtige Company sorgte für den Schutz der geschaffenen Einrichtungen durch die Soldaten des britischen Königs. In dieser Zeit entstanden weitere Forts an jenen neuralgischen Punkten, wo der Handel schon vor der Landnahme der Europäer stattgefunden hatte. Es waren meist Flussmündungen oder strategisch günstige Flecken, die den Machtbereich des Besitzers absicherten. Die regelmäßige Versorgung der Handelsstationen wurde von Reedern, wie James Dwight übernommen, die als linientreue Royalisten von den Gouverneuren eingesetzt wurden. In gleichmäßigen Abständen erhielten die Vorposten der Zivilisation die nötigen Dinge des Lebens und die Boston-Bay-Company die Früchte der Wildnis, die insbesondere aus Pelzen und Holz bestand.
Der glückliche Zufall wollte es, dass ausgerechnet zwei Tage später Mr. Dwight mit dem Zweimaster Adventure zum Kennebec Fluss aufbrach. Selbiger war einer jener Flüsse, die das Wasser des Appalachen-Gebirges aufnahm, um es anschließend 240 Kilometer zum Atlantik zu befördern. Der Appalachen-Gebirgszug trennt den britischen Einflussbereich vom französischen im Nordosten Amerikas. Es war eine ganz routinemäßige Versorgungsfahrt des Mr. Dwight, die viermal im Jahr zum Fort Western führte. Der Fluss verlief in etwa von Nord nach Süd. Das bedeutete, jede Meile flussaufwärts würde mich Quebec ein wenig näher bringen und damit hoffentlich auch zu meinem Cousin Jacob und seinen Weggefährten.
Der Reeder James Dwight war auch gleichzeitig der Kapitän der Adventure. Benjamin Smith hatte sofort am folgenden Tag mit ihm gesprochen. Auf das nächste Schiff nach Albany am Hudson wäre meine Geduld zehn Tage lang auf die Probe gestellt worden. Geduld war noch nie meine Stärke gewesen. Kein einziges Schiff hätte mich eher aus Boston in Richtung New York herausgeschifft. Außer einigen Krabben- und Hummerfischern vielleicht, die allerdings ein Zusatzverdienst nicht verschmähten. Es gab keinen Grund mit dem Schicksal zu hadern, die Würfel waren für Mr. Dwight und das Kennebectal gefallen. Die Konstanze fuhr am nächsten Morgen mit der Flut aus dem Bostoner Hafen. Hinrich und Kapitän Broder versicherten mir, spätestens am Ende des Septembers wieder dort sein zu wollen. Auch die Fishbones in London rechneten mit der Heimreise ihres Sohnes erst zum Ende der Walfangsaison im Oktober. Dieses Mal sollte der angestrebte Fang der Konstanze unbedingt auch Hamburg erreichen, Krieg hin oder her. Wir wussten allerdings, dass Walfang nicht nach exaktem Zeitplan funktionierte und so war der Abholtermin in Boston von vielen Dingen im Verlauf der Fangperiode abhängig. Das waren Hinrichs letzte Worte, bevor der graue Walfänger sich von der Hafenanlage entfernte und nochmals dem Spott der Bostoner Bevölkerung ausgesetzt wurde, die die Aktivitäten mit Argusaugen im Hafen beobachteten.
Kurz danach widmeten wir uns in Boston den Ausrüstungshäusern, die zahlreich am Hafen vertreten waren. Wir versorgten uns mit dem Nötigsten zum Überleben in der Wildnis. Auch das Überwinden der Appalachen-Bergkette musste so oder so mit unserem Gepäck zu schaffen sein. Hannes suchte sorgfältig die Vorderlader aus, sowie damals in Quebec, vor der Durchquerung des amerikanischen Kontinents. Der gut Englisch sprechende Matrose Arian begleitete ihn, während Peter und ich mit Benjamin Smith zur allmächtigen Boston-Bay-Company gingen. Dort stellte man uns die entsprechenden Passierscheine aus, damit wir unser Fortkommen in Maine gesichert sahen. Im Land herrschte bekanntlich Kriegszustand mit allen grässlichen Auswirkungen. Das natürliche Misstrauen der Menschen hatte bereits in Friedenszeiten Spuren in den Gesellschaften der Kolonisten aus Europa hinterlassen, die oftmals in der Wildnis auf sich selbst gestellt waren und sich meist selbst organisieren mussten.
Am Abend hatten wir nochmals die Ehre, von Familie Smith zum Essen eingeladen zu werden. Die Prozedere bei Tisch nahm den bekannten Verlauf, nur dass wir uns diesmal vorbereiteten und unsere Umgangsformen dementsprechend anpassten. Selbst Arian und Hannes durften der neuerlichen Einladung entsprechen. Für gemeine Mannschaftsdienstgrade waren solche Einladungen als außergewöhnlich zu bezeichnen. Mr. Smith hatte verstanden, dass sie als unverzichtbare Teilnehmer einer Expedition in das Grenzland gleichberechtigt agierten. Dabei wurde die Hierarchie, die an Bord unseres Schiffes existierte, zweifelsohne außer Kraft gesetzt. Ein Vorgang, der seinesgleichen suchte, denn die Abgrenzung zwischen Mannschaften und den Schiffsführungen war vor allem durch die Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung begründet, ohne die eine effektive Führung des Schiffes nicht gelingen konnte. Doch hier galten ganz andere Maßstäbe.
Überraschenderweise durfte während des Essens gesprochen werden. Arian wurde von Benjamin Smith sogar aufgefordert, aus seiner nordfriesischen Heimat zu erzählen. Da mussten Matrosen, je weiter sie sich von zuhause entfernten, nicht lange überlegen. Es ist, als ob man an einem Hebel zog, der eine Folge von Selbstverständlichkeiten auslöste, die nur noch schwer zu stoppen waren. Arian hatte keine Anlaufschwierigkeiten. Das Interesse an seiner Heimat beflügelte ihn umso mehr:
„Oft suchen heimtückische Stürme unsere schöne Insel Sylt in der Nordsee heim. Der reine Strandsand - wie Puderzucker hell und pulverig, wird durch die Kräfte von Wasser und Wind im Nu fortgetragen. Die qualvoll herbeigeschafften Steine und Holzpfähle, die sommers in die Erde gerammt werden, um die Küste zu befestigen, werden winters meist durch ebenjene Gewalten wieder weggespült. Dabei muss das ganze Dorf mithelfen, weil die Arbeit sonst nicht in der kurzen Zeit zu schaffen ist. Denn, viele Fischer werden um ihre Existenz gebracht und von manchem Bauern schwindet Grund und Boden, wenn der Sturm wiedermal zugeschlagen hat. Der Kampf beginnt jedes Jahr aufs Neue. Wer den Mut zum Neuanfang hat, gerät unter Umständen in die Hände der königlich-höfischen Schergen, die Matrosen für den dänischen König suchen und meist auch fündig werden. Nur durch die Heuer auf überwiegend holländischen und deutschen Schiffen, abseits der Heimat können die Männer ihre Familie ernähren, und dem perspektivlosen königlichen Zwangsdienst auf dänischen Kriegsschiffen eine Zeit lang entkommen. Heimatflucht, wenn man so will … zum Wohle der Heimat!“
„Interessant, Arian! Gehen Sie hier aus freien Stücken mit in die Wildnis?“, fragte Mrs. Smith unbedarft, sodass ihr Mann vor Scham versank und die Augen verdrehte. Scheinbar war er es nicht gewöhnt, wenn seine Frau eigene Gedanken äußerte. Doch die Antwort interessierte offensichtlich auch den Hausherren, der in Lauerstellung hin und hergerissen weilte.
„Ich bin stolz, dass Herr Kock dabei an mich dachte und ich hoffe einen großen Dienst leisten zu können, Madame. Wir werden Jacob und die anderen finden, da bin ich ganz sicher. Ich werde jedenfalls mein Möglichstes tun!“ Nun lächelte sogar Mr. Smith, weil die Antwort Arians weniger peinlich für seine Frau ausfiel, als er als Einziger befürchtete. Doch Mrs. Smith Wissensdurst schien an diesem Abend unerschöpflich zu sein. Schließlich hatte man hier nicht alle