Ich nutzte die lange Reisezeit, um mir zu überlegen, welche möglichen Begleiter mir bei der Suche nach Jacob und den anderen zur Seite stehen könnten. Hinrich wollte unbedingt zum Walfang. Das hatte er von Anfang an klar gemacht. Außerdem bestimmte der Kapitän meinen Bruder die fehlenden Navigationseinheiten zu vermitteln. Auch Hinrich wollte sein Kapitänspatent als Absolvent der Hamburger Navigationsschule machen. Das gleiche Ziel verfolgten Jacob und ich, nachdem wir auf dem Walfänger ausgebildet worden waren. Doch ich beanspruchte dieses Recht bisher nicht, auch weil der Walfang für mich selbst nicht mehr infrage kam, und durch meine fehlende Teilnahme auf der Rückreise der Konstanze mir sicher ein paar Monate Übung fehlten. Ich weinte dem keine Träne nach. Ich konzentrierte mich auf meine Aufgabe: Wenn ich den Koch, die Speckschneider und Harpuniere ebenfalls ausklammere, bleiben nicht mehr so viele Männer übrig, die ich zur Suche mitnehmen könnte. Kapitän Broder konnte zwei Mann entbehren, die keine Schlüsselposition bei der Waljagd einnahmen. Ich wollte neben dem erfahrenen Hannes noch einen möglichst Englisch sprechenden jungen Mann dabei haben. Die Wahl fiel auf den nordfriesischen gescheiten Matrosen Arian, der aufgeschlossen auf neue Dinge zuging und zusätzlich noch ein guter Ruderer war. Denn um irgendwelche schiffbaren Vehikel werden wir auf unserem Weg nicht herumkommen. Indes hatte Arian nicht damit gerechnet, dass ich ihn fragen würde.
Die Würfel waren nach Absprache mit Kapitän Broder gefallen: Hannes, Peter, Arian und ich werden von Boston aus mit der Suche nach Jacob, Julie, Peter, Irina, Zven und Ivonne beginnen.
Inzwischen war es spät geworden, im Hause Kock an der Kehrwiederstraße. Cornelius und Caroline lauschten meinen ausführlichen Erzählungen, trotz eines harten Arbeitstages, den wir hinter uns ließen. Es klopfte an der Tür und Lisa kam herein. Ihr Blick verriet, dass auch sie die späte Stunde bemerkt hatte.
„Ich möchte zwar kein Spielverderber sein, aber ...“
„ ... aber, du bist es jetzt schon, Mutter!“, fuhr Caroline sie an und klopfte unterstützend auf eines der unzähligen Kissen.
„Ein freundlicherer Ton könnte deinen Bemerkungen manchmal nicht schaden, Caroline!“, sagte ich ärgerlich.
„Ist schon richtig so, Lisa. Ich kann auch nicht mehr weiter erzählen.“ Ich nahm sie in den Arm, nachdem sie neben mir auf dem Sofa Platz genommen hatte.
„Entschuldigung, Mutter! Ich hab es nicht so gemeint. Vater hatte nur so schön erzählt und ich wollte einfach hören, wie es weitergeht.“
„Ihr müsst morgen früh die Charlotte beladen und Cornelius muss seine Sachen für die Fahrt packen. Das Schiff soll schließlich mit der Flut auslaufen“, ergänzte sie. Die Kinder hatten diesem Argument nichts entgegen zu setzen. Sicher spürten auch sie längst den langen Tag, der nun allmählich sein Ende fand.
„Bei nächster Gelegenheit werde ich weiter erzählen, wenn ihr wollt!“, rief ich den Kindern hinterher, die bereits die Treppe hinab stiegen.
„Das wird frühestens in zwei Monaten der Fall sein. Gute Nacht!“, antwortete Cornelius schläfrig aus dem Treppenhaus.
„Morgen macht dein Sohn seine erste Fahrt als 1. Offizier nach La Rochelle“, sagte Lisa, mit Stolz in ihrer lieblichen Stimme.
„Wenn ich Caroline und Cornelius von damals erzähle und mich an all die verrückten Sachen erinnere, dann bin ich so intensiv bei den Ereignissen, als hätte ich sie gerade eben erlebt. Anschließend brauche ich einige Zeit, bis ich als souveräner Vater meiner Kinder auf das Sofa zurückkehre ...“ Sie legte ihren Arm bedächtig um meine Schultern und ihre zarte Wange berührte die meine. Ich spürte ihren sanften Atem und mein Ohr fing an zu kitzeln. Immer noch neugierig wie am ersten Tag unserer Liebe, wartete ich ab, was noch geschehen würde, und ich horchte in den Raum hinein. Stille! Auch der nahe Hafen kam zur nächtlichen Ruhe.
Am nächsten Tag lief die Charlotte planmäßig nach La Rochelle aus. Direkt vor unserer Haustür am Kehrwieder konnten wir die Abfahrt des Schiffes verfolgen. Die Brigantine Charlotte, die auch auf ihre alten Tage noch weiterhin regelmäßig zwischen La Rochelle und Hamburg verkehrte und somit die private wie geschäftliche Verbindung der Kocks aufrechterhielt, hatte neben Cornelius noch einen anderen Neuen an Bord. Der junge Kapitän Jaspar Jensen, dessen Vater mit mir damals zum Walfang als zweiter Steuermann unterwegs war, hatte frisch sein Kapitänspatent erhalten.
Caroline arbeitete derweil überwiegend im Kontor in der Katharinenstraße bei ihrem Großvater. Jedoch heute war sie verdächtig oft im Hafen zu sehen gewesen. Das Schiff legte ab und sie winkte und winkte. Lisa guckte mich mit fragendem Blick an.
„Ereifert sie sich bloß, weil sie froh ist, ihren Bruder mal ein paar Tage nicht zu sehen“, bemerkte ich tonlos, ohne den Blick vom auslaufenden Schiff zu lassen. Lisa schaute mich nochmals an. Ich sah in ihr Gesicht. Sie kniff kurz aber kräftig die Augen zu, was in etwa bedeutete, ich solle mir meine Kommentare möglichst verkneifen. Zumindest aber, wenn unsere Tochter anwesend sei.
Die Sonne strahlte kräftig. Caroline winkte, auch noch, als die Brigantine nicht mehr zu sehen war und sie dem Schiff nicht mehr hinterher sehen konnte.
„Nun ist er weg. Er wird es gut haben bei Nathalie und Clemens“, stellte Lisa lächelnd fest, bevor wir ins Haus gingen.
„Und nicht zu vergessen, bei seiner Cousine Antoinette!“, ergänzte ich spitzfindig. Sie hatte ihn gern und veranstaltete bisher immer etwas Besonderes, wenn Cornelius zugegen war. Caroline bestieg unterdessen wortlos das wartende Fuhrwerk, das sie direkt zu ihrer Arbeit ins Kontor zurückbringen sollte.
Cornelius hatte die hinter ihm liegende Fahrt nach La Rochelle bravourös in seiner Funktion als 1. Offizier gemeistert und sichtbar reifen lassen. Er wirkte nach der Fahrt erwachsener, wohl auch, weil er sein Haupt nunmehr in den Himmel steckte. Endgültig entledigte er sich der Beaufsichtigung seiner Eltern, die nun seiner abgelegten kindlichen Vergangenheit angehörte. Noch am Abend vor der Abfahrt der Charlotte, wo wir ebenfalls hier auf dem Dachboden unseres Hauses am Kehrwieder saßen, wirkte er eher zart, unsicher und jugendlich, als ich bis zum London Aufenthalt bei den Fishbones von der zweiten Amerikareise erzählte.
Auch bei seiner Schwester hatte sich etwas getan. Die zwei Jahre ältere Caroline ließ uns den letzten Schritt des Erwachsenwerdens deutlich spüren. Ihr genügte erstaunlicherweise während der Abwesenheit des Bruders nur die Gesellschaft ihrer besten Freundin Rosalinde, die für die Herzensangelegenheiten zuständig war. Caroline verhielt sich in den häuslichen Räumen nun eher still und nachdenklich, entgegen allen bisherigen Vorlieben. Die Ankunft der Charlotte machte sie plötzlich ganz hektisch. Wie schon bei Cornelius` Abfahrt überraschte sie mit rauschender Präsenz im Hafen, die sonst nach außen hin üblicher schlichter vornehmer Zurückhaltung wich. Caroline hatte ihr neues Kleid angezogen und bald stellte sich heraus, dass sie sich nicht für ihren Bruder so schön zurechtgemacht hatte. Meine Tochter kokettierte mit unserem Kapitän Jaspar Jensen, der seine Augen ebenfalls nicht von ihr lassen konnte, obwohl er sich im Dienstgespräch mit dem neuen Hafenmeister und dem Elblotsen befand. So hatte Rosalinde das Nachsehen, die sicherlich die flotten Offiziere des Schiffes in Augenschein nehmen wollte. Schließlich hatte man gegenüber der besten Freundin eine untrügliche Verpflichtung. Doch nun stand sie in der zweiten Reihe der Hafenbesucher und der schnell zusammengetrommelten Angehörigen, die die Mannschaft selbstverständlich zur Begrüßung in Empfang nehmen wollten. Cornelius schulterte lässig seinen Seesack und ging grinsend an seiner Schwester vorbei, die nur Bruchteile einer Sekunde einen Blick zu ihm warf.
Das Verhalten der Kinder hielt uns trotzdem nicht von der Zusammenkunft auf dem Dachboden unseres Hauses ab. Lisa, Cornelius und ich hüteten uns davor, Carolines Begrüßung der Charlotte irgendwie zu kommentieren. Auch wenn es mir sehr schwer fiel. Caroline würde das nicht so leicht verzeihen, soviel stand fest. Erstaunlicherweise galt ihr Interesse immer noch meinen Erzählungen. Erst am nächsten Tag sah sie Jaspar Jensen anlässlich des Empfangs bei Vater wieder. Bis dahin