„Woher willst du denn wissen, dass es ein Liebesbrief ist, wenn du nicht so gut lesen kannst?“, fragt sie misstrauisch nach, da ihr die ganze Sache doch ein wenig merkwürdig vorkommt.
„Weil so viele Herzen darauf gemalt sind“, hält der Junge ihrem skeptischen Blick stand.
„So, so, Herzen“, runzelt das Mädchen seine Stirn. Ja, ist es denn zu fassen?
„Und wie kommt der Brief in deine Hände?“, blickt ihn Leo aus schmalen Augen an.
Pauli überlegt kurz, was er antworten soll und beschließt, es mit der Wahrheit zu versuchen.
„Ich habe ihn auf Matthias' Schreibtisch gefunden. Blöderweise bevor er ihn verloren hat, was vermutlich Ärger gibt, wenn er davon erfährt“, raunt der Junge leise. „Aber sobald wir ihn gelesen haben, lege ich ihn zurück. Sofort. Großes Indianerehrenwort!“
Leo braucht jetzt Mal ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er ihr da gerade geflüstert hat.
„Du hast den Brief stibitzt?“, verengen sich ihre Augen zu noch schmäleren Schlitzen.
„Ausgeborgt!“, schluckt Pauli schnell sein schlechtes Gewissen hinunter.
„Doch ich werde ihn zurücklegen, sobald ich ihn gelesen habe!“, wiederholt er seine Worte mit unsicherer Stimme.
„Sobald wir ihn gelesen haben, du Langfingfang“, murmelt Leo in seine Richtung und die Entschiedenheit ihres Blickes lässt ihn erfreut seine Lippen kräuseln.
„Wir lesen ihn?“, zeigt er ein verschmitztes Lächeln, das ihren Widerstand wie Haselnusseis in der Sonne schmelzen lässt.
„Na klar!“, erwidert Leo sein Lächeln. „Du brauchst eindeutig mehr Übung und ich bin gern bereit, dich dabei zu unterstützen. Davon abgesehen, wer weiß, ob und wann wir jemals so einen Brief zu Gesicht bekommen?“
„Bei dir oder bei mir?“, will Paulchen wissen, während das Mädchen sich die Frage durch den Kopf gehen lässt.
„Wo ist es sicherer?“, wirft Leo einen wehmütigen Blick zu Moritz und Lena, wohl wissend, dass sich das Fangen in dieser Pause leider nicht mehr ausgehen wird.
„Bei dir“, flüstert der Junge. „Wenn Matthi mich mit seinem Brief erwischt, macht er aus uns Hackfleisch.“
„Damit ist zu rechnen“, nickt Leo zustimmend. „Falls Kathi uns beim Lesen ihres Briefes in meinem Zimmer ertappt, verarbeitet sie uns zu Müsli.“
„Wird sich nicht vermeiden lassen“, lächelt Pauli dünn, obwohl er sich ziemlich sicher ist, dass Leo ihre Worte nicht wirklich ernst meint.
„Also“, fragt das Mädchen vorsichtshalber nochmals nach, „wie willst du enden, als Hackfleisch oder Müsli?“ Da muss der kleine Pauli nicht lange überlegen und meint entschieden: „Als Müsli. Weil das viel gesünder ist.“
„Gut. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, streckt Leo ihre Hand aus und versetzt dem Kleinen einen liebevollen Nasenstüber.
„He, lass das, Leo!“, schiebt Pauli ihre Hand aus seinem Gesicht.
„Wann soll ich bei dir sein?“, flüstert der Kleine in ihre Richtung.
„Um fünf. Um diese Zeit ist Kathi außer Haus, da sie heute Volleyball spielt“.
„Werde pünktlich da sein“, hebt der Junge zum Abschied seine Hand und schlurft mit einem kleinen, aber zufriedenen Lächeln zurück zu seinen Klassenkameraden.
„Will ich dir geraten haben. Und wehe du vergisst den Brief, dann mache ich Müsli aus dir!“, ruft ihm Leo leise hinterher.
„Ist das eine Drohung?“, dreht sich Pauli nochmals kurz zu ihr um.
„Nein, ein Versprechen!“, grinst Leo breit und freut sich diebisch auf die Leseübung. Damit ist das geheime Geheimtreffen endgültig zu Ende. Die Pause leider auch.
Grübelnd marschiert Leo in ihre Klasse. Ob das, was Pauli auf Matthias’ Schreibtisch gefunden hat, tatsächlich ein Liebesbrief ist? Und was wohl in so einem Liebesbrief steht? Hätte ihn Pauli nicht auf dem Schreibtisch seines Bruders entdeckt, wäre es Leo bestimmt nicht aufgefallen, dass Matthi und Kathi offensichtlich etwas mehr als nur die gemeinsame Schule verbindet. Dieser Umstand verwirrt sie ein wenig. Wann will Kathi ihr denn von Matthias erzählen? Etwa bei ihrer Hochzeit? Ihre große Schwester ist ja schon immer eine noch größere Geheimniskrämerin gewesen, aber einen Liebesbriefschreiberfreund kann man der Familie doch nicht vorenthalten. Schon gar nicht der eigenen Schwester! Aber vielleicht ist ja alles nur ein Missverständnis, das sich bald in Luft auflöst.
Der Zeichenunterricht löst sich leider nicht in Luft auf und besonders die letzte halbe Stunde zieht sich.
„Das ist immer so, wenn man sich auf etwas besonders freut“, denkt Leonie an den Matthi-Kathi-Liebesbrief, während sie ihren Zug zeichnet, der überhaupt nicht wie ein Zug aussieht. Sondern eher wie eine Schlange. Eine Boa constrictor mit Fenstern. Obwohl sie noch nie eine Riesenschlange mit Fenstern gesehen hat. Lena offenbar auch nicht.
„Dein Zug sieht aus wie ein Regenwurm“, lässt sie ihre Banknachbarin unumwunden wissen.
„Vielen Dank auch“, entgegnet Leonie ein wenig gekränkt. Genau das hat ihr noch gefehlt. Eine ungebetene Meinung. Und wenn man es ganz genau nimmt, sieht Lenas Zug auch nicht viel besser aus. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ihr Zug dampft und wo bitte gibt es heute noch Eisenbahnen, die dampfen? Wir sind hier schließlich nicht in der Badewanne.
Auf dem Nachhauseweg strapaziert Edwin wie immer Leonies Nerven. Er will unbedingt wissen, worüber sie mit Pauli in der großen Pause so lange getuschelt hat.
„Über neugierige Jungs mit zu großen Ohren“, schaut sie vergnügt lächelnd in sein Gesicht und hat große Mühe, nicht laut zu kichern.
„Dann verrät es mir eben Pauli“, brummt Edwin über ihren Scherz auf seine Kosten eingeschnappt, bevor er die Eingangstür von Nummer 8 laut hinter sich zuschlägt.
„Das glaube ich weniger“, lächelt Leonie in sich hinein. „Der Kleine wird sich hüten, mit der Wahrheit rauszurücken, da er sonst Gefahr läuft, als Getreideflockenmischung zu enden. Und das schmeckt ihm ganz bestimmt nicht
Denn wer endet schon gern fein geschrotet und in Stücken?
6 Einmal lesen bitte – mit Ohren zuhalten!
Um genau Punkt fünf klopft es laut an Leonies Zimmertür.
„Komm rein, Pauli!“, schreit Leonie, die gerade dabei ist, ihre Bücher und Spielsachen vom Boden aufzuheben, damit sich der Kleine nicht ernsthaft verletzt, sobald er ihren Herrschaftsbereich betritt.
Schon wird die Tür aufgerissen und im Zimmer steht Pauli, der – ojemine – überhaupt nicht wie Pauli aussieht. Sondern eher wie ihre große Schwester Kathi. Die irgendwie auch nicht aussieht, wie sie sonst immer aussieht. Sondern mehr wie ein ... mehr wie ein ... ein Schlumpf trifft es wohl am ehesten.
„Schlumpf zu Gruß!“, verzieht Leo ihre Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln.
Kathi sagt nichts und furcht unmutig ihre Stirn.
„Was ist denn das für eine Schmiere in deinem Haar?“, zeigt Leonie auf ihre Schlumpffrisur.
„Das ist keine Schmiere, sondern nennt sich Gel, du Dummerchen“, deutet das größere Mädchen auf seine feucht glänzende Haarpracht, „aber davon verstehst du nichts.“
Mag ja sein, dass Leo von diesem Zeugs namens Gelee nicht viel versteht, dafür jedoch etwas von Schlümpfen.
„Was willst du hier?“, starrt sie ihre Schwester wie Gargamel an, da ihr gerade durch den