„Du kannst meine Hand loslassen. Ich kann allein stehen“, brummt der Kleine verdrossen.
„Puh, das war knapp“, stößt Leo laut hörbar die Luft aus, sobald Kathi außer Hörweite ist und fängt Paulis düsteren Blick auf, der ihr trotz ihres schon fast bühnenreifen Auftrittes noch immer nicht verziehen hat.
„Runter von meinem Brief!“, schnaubt der Erstklässer unmissverständlich und zeigt auf Leos Fuß, der noch immer auf dem Papier steht.
„Von Matthis’ Brief“, stellt Leo richtig und blickt in sein zorngerötetes Gesichtchen. Es fällt ihr wirklich schwer zu verstehen, warum er noch immer so wütend ist, obwohl sie gerade ihren und seinen Kopf gerettet hat. Ernüchtert blickt sie in Paulis ärgerlich blitzende Augen.
„Du könntest ruhig ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen!“, hebt Leonie ihren Fuß, und bückt sich hinunter, um den Brief aufzuheben.
„Wofür?“, erwidert Pauli beleidigt. „Dass du mein Vertrauen missbraucht und mich vor deiner Schwester als nicht lesen könnenden Hohlkopf hingestellt hast? Vielen Dank auch, Leo!“, geht nun Pauli ebenfalls in die Hocke, um sich das Papier zu holen.
„Aber du kannst wirklich nicht lesen!“, hält Leonie dem Jungen vor.
„Das muss ich nach zwei Wochen Unterricht in der ersten Klasse auch noch nicht können!“, verteidigt sich der Kleine.
Am Boden angekommen, berühren sich fast ihre Nasen, als beide Kinder gleichzeitig nach dem Brief greifen, um eine Ecke zu erhaschen.
„Lass los, Leo! SOFORT!“, macht Pauli Anstalten, sich doch noch auf das Mädchen zu stürzen. Doch dieses denkt nicht daran, seinem Befehl nachzukommen. Anstatt dessen lehnt sich Leo noch näher zu ihm hinüber, bis sich ihre Nasen tatsächlich berühren.
Pauli spürt, wie sie mit ihrer freien Hand nach seinem Handgelenk greift und es fest umfasst.
„Es tut mir leid, dir nicht gesagt zu haben, dass man auch mit zugehaltenen Ohren lesen kann“, entschuldigt sie sich bei dem Jungen nochmals und lässt gleich darauf seine Hand wieder los.
„Wirklich?“, gewinnt Pauli mehr und mehr den Eindruck, dass sie ihr schändliches Verhalten vielleicht doch bereut.
„Ja, wirklich“, beteuert Leonie und lächelt leicht zerknirscht.
„Wenn das so ist, dann gib mir den Brief!“, forderte Pauli sie auf, doch Leo kommt das nicht richtig vor, da der Brief an ihre Schwester gerichtet ist. Noch weniger erfreulich ist der Umstand, dass Pauli am Ende seines Briefteils zu zerren beginnt, mit dem Erfolg, dass Leonie unbewusst in die andere Richtung zieht, was blöderweise – RATSCH – zur Folge hat, dass der Brief ziemlich genau in der Mitte auseinandergerissen wird.
Nachdem beide Kinder den in ihren Händen befindlichen Teil mehr oder weniger entsetzt betrachteten, beginnt es in ihren Köpfen erneut zu brodeln.
„Na, zufrieden!“, faucht Leonie wie eine alte Dampflokomotive in Paulis Richtung, der ihr kurz einen erschrockenen Blick zuwirft und dann wütend wieder geradeaus schaut. Während Leonie irgendetwas von Müsli und ihren letzten Stündlein faselt, und nicht mit Details spart, wo, wie und wann Kathi sie in ihre Einzelteile zerlegen wird, erweckt Pauli irgendwie den Eindruck, als stünde ihr unausweichliches Ende nicht unbedingt unausweichlich bevor.
„Du kannst dich wieder beruhigen, Leo!“, ignoriert er geflissentlich ihre finsteren Zukunftsprognosen und zieht ihr vorsichtig ihren Teil von Matthis’ Brief aus der Hand, den sie ihm widerspruchslos überlässt.
Leo hält kurz inne und schaut Paulchen verwundert an.
„Was hast du vor?“, wirft ihm das Mädchen einen fragenden Blick zu.
„Ich werde den Brief kleben“, fügte er beide Teile des Briefes kurz vor seinen Augen zusammen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Tixo ist dort drüben, bedien' dich!“, deutete Leo auf ihren Schreibtisch, „aber falls du glaubst, dass wir damit durchkommen, bist du noch dümmer, als zu aussiehst“, räuspert sie sich kurz und allein bei dem Gedanken an Kathis zu erwartenden Tobsuchtsanfall läuft es ihr eiskalt über den Rücken.
„Ich werde den Brief nicht mit deinem Tixo, sondern mit dem von Edwin kleben“, übergeht Pauli ihre Beleidigung. „Das hat so hübsche Piratentotenköpfe an den Rändern und ist unverwechselbar seines“, fügte er hinterlistig hinzu.
Obwohl taktisch äußerst raffiniert, findet Leonie die Idee irgendwie nicht so gut.
„Matthi wird denken, dass Edwin den Brief zerrissen hat“, färbt sich ihre Stimme leicht vorwurfsvoll. „Das ist nicht unbedingt nett.“
„Nein, ist es nicht“, pflichtet ihr Pauli bei. „Aber die gerechte Strafe dafür, dass er mir immer meine Lutscher klaut und das Federpennal versteckt“.
Leo will darauf etwas sagen, findet aber nicht die richtigen Worte. Angesichts dessen, was gerade geschehen ist und der Kleine nun vorhat, ist sie sich nicht mehr ganz sicher, was schlimmer ist, Kathi ihre Schuld zu beichten oder sie auf Edwin zu schieben. Außer Frage steht lediglich, dass beides kein gutes Licht auf sie wirft.
„Ich bin dann mal weg“, dreht sich Pauli um und marschiert entschlossen in Richtung Tür.
„Vielleicht sollten wir über die Sache mit dem Tixo noch einmal reden!“, ruft sie ihm nach, da sie sich nicht wirklich wohl bei dem Gedanken fühlt, Edwin für ihre Untaten büßen zu lassen, obwohl dies schon ein überlegenswerter Versuch ist, Kathis Wutausbruch zu entgehen, der unweigerlich ins Haus steht, wenn sie herausfindet, dass es ihr Brief war, der blöderweise beim heimlichen Lesen entzwei ging.
Pauli hört die unausgesprochenen Vorbehalte in ihrer Stimme, weshalb er sich nochmals kurz zu ihr umdreht.
„Einer bekommt eins auf die Nase“, lächelt er leicht gequält in ihre Richtung. „Entweder Edwin oder wir. Du hast die Wahl.“
Da muss Leo wirklich nicht lange überlegen. „Edwin!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen, worauf die beiden Kinder nochmals vielsagende Blicke wechseln. Dann huscht Pauli lautlos wie eine Ninja-Turtle aus dem Zimmer, weil er noch schnell den Brief kleben muss, bevor er ihn auf den Schreibtisch seines ältesten Bruders zurücklegt.
Als Matthi abends in sein Zimmer kommt, staunt er nicht schlecht, als er seinen Brief an Kathi (den er schon überall verzweifelt gesucht hat), mit einem mit schwarzen Totenköpfen gesäumten Tixo geklebt, auf seinem Schreibtisch vorfindet. Nur zu gut weiß er, wem dieses Klebeband gehört und deshalb hört man kurze Zeit darauf sehr laut seine Stimme durch das ganze Haus Nr. 8 donnern: „EEDWIIIIIINNNNN!“
8 Zwei Bösewichter fliegen auf
Als Leo am nächsten Tag zur Schule geht, ist es verdächtig still auf der Straße. Das liegt hauptsächlich daran, dass sie nicht den üblichen Weg nimmt. Sondern einen abgelegenen, der zwar ein bisschen länger ist, dafür aber ein geringeres Risiko aufweist, Edwin zu begegnen. Da er so ziemlich der letzte Junge auf der Welt ist, den Leonie heute sehen will, weil sie ein mächtig schlechtes Gewissen hat. Daher verspürt sie auch nur wenig Lust, in ihre Klasse zu gehen, was jedoch leider unvermeidbar ist. Sie MUSS da hinein. So leise wie möglich schleicht sich das Mädchen auf Zehenspitzen auf seinen Platz und staunt nicht schlecht, als es Moritz sieht. Der eine blaue Nase hat, genau wie Bastian und Clemens, die dicht bei ihm stehen und sich flüsternd unterhalten.
Wenn Leonie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass die drei den Club der Blaunasen gegründet haben. Einzige Aufnahmebedingung: pflaumenblaue Nase. Gedankenverloren lässt sie ihren Blick schweifen, der schließlich an Edwins Gesicht hängenbleibt, dessen Nase überraschenderweise nicht