Der Portier machte die Andeutung einer Verbeugung und tat so, als hätte er etwas Dringendes in dem kleinen Dienstzimmer zwischen Rezeption und Lounge zu tun. Ilka und Fox blickten ihm nach, dann sahen sie sich in die Augen. Beinahe gleichzeitig zuckten sie mit den Achseln und gingen hinaus zu ihrem Wagen.
„Machen wir einen kleinen Ausflug in die Stadt?“, fragte Prancock mit solcher Unlust in der Stimme, dass selbst Ilka sich eingestehen musste, wie maßlos enttäuscht sie war. Hin- und hergerissen zwischen dem Willen, einfach nur Urlaub zu machen, und dem Bedürfnis, dem mysteriösen Hilferuf nachzuspüren, wirbelten widersprüchliche Gedanken in ihr herum. Am schlimmsten fand sie jedoch, dass ihre Flirtstrategie bereits zum zweiten Mal erfolglos geblieben war.
„War ich nicht gut?“, fragte sie zerknirscht.
„Du warst viel zu gut, Kätzchen, hast doch gesehen – um seine Hormone in Schach zu halten, klammerte der Typ sich über Gebühr an die Datenschutzrichtlinien im Hotelgewerbe!“
„Gibt’s die denn?“
„Keine Ahnung! Also, welche Sehenswürdigkeiten wollen wir angucken?“
Ilka blieb stehen und malte mit dem Schuh wirre Muster in den Kiesweg. Sie reckte ihre Nasenspitze kurz der vormittäglich trägen Sonne entgegen und begann sich am Kinn zu kratzen. Es schien, als würde sie über lebenswichtige Entscheidungen nachdenken, dann wandte sie ihren Blick wieder Fox zu und sagte entschlossen: „Das Gästeverzeichnis des ,Joli Bois‘!“
Prancock seufzte. „Und wie willst du das anstellen?“
„Weiß ich nicht! Du bist doch der Experte für Ermittlungsfragen!“
„Na, na, als Journalistin musst du mindestens genauso gut recherchieren!“
„Eins zu null für dich, Herr Kommissar! Oder heißt es: ,Love – Fifteen‘?“
Sie ergriff seine Hand und zog ihn sanft zu sich. Dann küsste sie Fox ohne Vorwarnung leidenschaftlich auf den Mund. Minuten und Sekunden wurden bedeutungslos. Ilkas überfallartige Zärtlichkeit verwunderte Prancock – normalerweise war sie in der Öffentlichkeit zurückhaltender. Sie löste sich von ihm und schmiegte ihre Wange an seine.
„Na, fallen wir auf?“, flüsterte Ilka ihm ins Ohr.
„Und wie!“, hauchte er zurück. Einige Gäste, die es sich vor der Pension in Kunststoffsesseln bequem gemacht hatten, fanden ihre Zeitungen plötzlich eher uninteressant, stellte Fox mit unauffälligem Seitenblick fest.
„Gut“, resümierte Ilka, „dann machen wir’s so!“
„Was? Und wie ...?“
Ohne eine Erklärung hakte sich Ilka bei ihrem Freund ein und sie marschierten wieder auf den Eingang zu. Als sie durch die Tür traten, schaute der Portier von seiner Theke aus argwöhnisch zu ihnen herüber.
„Perfekt“, dachte Ilka, „Rezeption leer, Herr Datenschutz allein.“
Sie traten nahe an den Mann heran.
„Verzeihung“, kurbelte Ilka ihre Charmemanufaktur an, „wäre es vielleicht möglich, beim heutigen Abendmenü Hummer statt Barsch zu bekommen?“
„Ich weiß nicht, ob der Küchenchef ...“, setzte der Portier zu einer ausweichenden Bemerkung an, aber Ilka unterbrach ihn.
Sie verlor kein Quäntchen ihres verführerischen Blicks: „Fragen Sie ihn doch! Wir lieben Hummer!“
Der Portier öffnete den Mund, doch bevor er etwas erwidern konnte, wandte sich Ilka Fox zu, umklammerte seine Taille mit beiden Armen, zog ihn noch leidenschaftlicher als zuvor an sich und küsste ihn. Offensichtlich hatte orgiastisches Verlangen sie gepackt. Fox bemühte sich, wenigstens aus einem Auge zu linsen und sich nicht völlig seiner Erregung hinzugeben. Er hatte Ilkas Plan kapiert. Verschwommen nahm er wahr, wie der Mann sie beide zuerst entsetzt anstarrte, dann errötete, sich schamhaft abwandte und dabei etwas wie „un moment!“ murmelte. Fluchtartig verschwand der peinlich berührte Portier in Richtung Küche. Augenblicklich ließ Ilka Fox los und griff über den Tresen. Sie nahm das Buch, in dem Ankunft und Abfahrt der Gäste verzeichnet waren, und schob es Fox hin: „Such den gestrigen Tag! Schnell!!“
Ohne ein Widerwort blätterte Fox eine Seite zurück: Voilà! Da waren sie: die Aufzeichnungen über den gestrigen Samstag. Ilka hatte mit der Professionalität der rasenden Reporterin ihre kleine Digitalkamera hervorgezogen. Prancock hielt ihr die entsprechende Seite vor die Linse. Ilka lichtete sie zweimal ab, woraufhin Fox wieder umblätterte und das Buch zurück hinter den Tresen legte. Ilka ließ den Fotoapparat in ihrem Täschchen verschwinden und umarmte Fox von Neuem.
„Diesmal können wir’s wirklich genießen!“, strahlte sie den Kommissar an. Seine Augen signalisierten Verblüffung und Bewunderung. Er löste sich aus seiner Starre, als ihre warmen Lippen die seinen umkosten. Ihre Zunge schob sich suchend in seinen Mund und Ilkas heißer Atem warf Prancocks erotische Zentralheizung an. Diesmal hörten sie die Tür zur Küche nicht knarren. Die Schritte des eintretenden Portiers würden für sie immer eine Legende bleiben. Erst sein lautes Räuspern drehte ihr gemeinsames Thermostat drastisch zurück. Sie ließen einander los und blickten den Mann erwartungsvoll an.
„In Ordnung“, sagte er, „wir servieren Ihnen heute Abend Hummer!“
„Vielen, vielen Dank!“, war die eindeutige Botschaft von Ilkas Augenzwinkern in Richtung Rezeption. Mit einem betont fröhlichen „Au revoir!“ winkte sie dem Portier noch einmal zu, um dann erneut nach draußen zu gehen. Fox holte schnell auf, um nicht wie Ilkas Dackel zu wirken. Hand in Hand und zufrieden grinsend liefen sie zu ihrem Auto. Sie mussten sich richtiggehend beherrschen, nicht wie Kinder zu hüpfen. Am Wagen angelangt, sahen sie sich an und begannen laut herauszuprusten.
„Du bist genial, Kätzchen!“, brachte Fox nur unter Mühen zwischen Kicher- und Lachanfällen hervor.
„Danke, Herr Kommissar“, gab Ilka zurück, „diese Ermittlungsmethode kannst du ja auf einer Fortbildung mal euren Polizeikadetten nahebringen!“ Sie wischte sich Lachtränen aus dem Gesicht und Fox bemerkte nur noch trocken: „Aber weißt du, was Mist ist?“
„Na, was denn?“
„Ich hasse Hummer!“
Wirre Bilder von umstürzenden Regalen und durch die Luft wirbelnden Büchern hielten sie in Schock und Starre gefangen. In ihr schrie die Panik auf: „Das ist ein Traum, das muss ein Traum sein!“ Die quälende Erkenntnis, zu völliger Reglosigkeit verdammt zu sein, ließ Janines Angst zu einem riesigen Tumor anschwellen. Das Krebsgeschwür drohte alles Leben in der jungen Frau zu ersticken. Hämisch lachende Fratzen bleckten ihre Zähne zwischen heranschnellenden Büchern. Mit rohen, achtlosen Gesten fegten brutale Hände Poster und Gemälde von den Wänden. Jeannie wollte schreien, aber ihre Lungen verweigerten den Dienst. Nur ein Würgen kroch ihr aus der Kehle. Die Fratzen fletschten erneut ihre Reißzähne. Mit unbarmherziger Drohgebärde schienen die Hauer zwischen tanzenden Büchern und Bildern zu schweben. Janine wurde abwechselnd heiß und kalt, Schweiß rann über ihr Gesicht. Warum nur konnte sie nicht die Augen schließen, warum war ihr nicht einmal diese Gnade gewährt. Die auf sie hereinstürzende Flut von Papier, Holz und Leinwand nahm ihr schließlich die Sicht. Endlich Finsternis, Stille und Erlösung! Endlich …
Ein sanfter Kuss auf ihre Stirn verscheuchte die Dunkelheit und das Gefühl des Erstickens. Wie eine zu lange unter Wasser gebliebene Schnorchlerin atmete sie implosionsartig ein. Ihr Geruchssinn identifizierte nun einen vertrauten Duft. Noch bevor sie die Augen aufschlug und träge blinzelte, wusste Jeannie, dass Jasmin neben ihr im Bett lag. Einige Comics waren über Decken und Kissen verstreut. Jassy fixierte ihre Lieblingshexe mit solcher Zuneigung, dass Janine von dem Kontrastprogramm fast schummrig wurde. Die Traumbilder waren derart real und beängstigend gewesen, dass sie nun gar nicht genug vom sonnigen Strahlen ihrer Freundin bekommen konnte.
„Jasmin – du? Aber du warst doch auf dem Sofa!“
Jassy lächelte jenes Lächeln,