Sie hob den Blick und sah den Kaffeefleck an der Tapete. Ein stilles Mahnmal ihrer Verletztheit. Er war etwas blasser geworden, aber nur ein wenig. Eigentlich hatte Else ihren Wocheneinkauf erledigen wollen, aber die Vorstellung, hinaus in das freundliche Wetter zu gehen, war ihr zuwider. An allen Ecken waren sie zu sehen: glückliche Menschen! Von Frühlingsgefühlen berauscht, umarmten sie einander, lächelten sich zu, tauschten Küsschen aus. Ein letztes brachiales „Revenge!“ zerriss fast den billigen Lautsprecher. Dann schaltete sich das uralte Gerät mit einem lauten „Klack“ ab. Das Geräusch ließ Else erneut aus ihrer Erstarrung aufschrecken. Herr Nightmare war wohl endgültig im „Deepest Swamp“ abgesoffen.
Die Stille im Raum griff kalt nach Elses Gefühlsapparat, dessen Thermostat ohnehin bereits „Frost“ zeigte. „Alle haben ihre eigenen Katastrophen – oder sie sind glücklich! Wieso sollte da einer nach mir fragen?“ Sie buchstabierte wieder einmal ihr neues Mantra: „A – L – L – E – I – N!“, als das Telefon die Übung in Selbstmitleid schrill unterbrach.
„Bestimmt fragst du gleich mit besorgter Stimme, wie’s mir geht, du Heuchler!“, durchfuhr es Else. Mit grimmigem Blick sah sie ihr Telefon an. Sie ließ es mehrfach läuten.
„Wenn du glaubst, ich geh ran, Mr. Mathe, hast du dich getäuscht!“
Es klingelte weiter. Jedes neue Schrillen hallte lauter als das vorherige in Elses Kopf. Nach zwölf Klingelzeichen nahm sie den Hörer und meldete sich mit einem durchdringenden: „Revenge!“
Schweigen. Dann ein verlegenes: „Verzeihung! Ich glaube, ich habe mich verwählt.“
Die Stimme kam Else bekannt vor, sie wusste sie aber nicht sogleich einzuordnen. Mr. Mathe war es jedenfalls nicht, den sie da hörte.
„Entschuldigung!“, stammelte Else, peinlich berührt von ihrer eigenen, albernen Racheaktion. „Hier Müller. Ich musste nur eben noch die Stereoanlage abdrehen. Wer spricht denn da?“
„Oh, Frau Müller! Dann bin ich doch richtig! Thalmann hier!“
Else schwieg verdutzt. Horst Thalmann, der Oberbürgermeister der Stadt, rief sie persönlich an – was hatte das zu bedeuten?
„Was kann ich für sie tun, Herr Thalmann?“
„Frau Müller, wie sie vielleicht wissen, finden in diesem Herbst Stadtratswahlen statt!“
„Jaja, ich weiß, aber was habe ich …?“
„Meine Kollegen von der ,Freien Liste‘ und ich könnten Sie uns sehr gut als Stadtratskandidatin vorstellen.“
„Aha“, dachte sich Else, „daher weht also der Wind – er braucht mal wieder ’ne Politmarionette!“
Else hatte den letzten Wahlkampf noch sehr gut in Erinnerung: Die großen Parteien hatten die Bürger der Stadt über die Jahre hinweg durch Gemauschel und Phrasendrescherei enttäuscht und verärgert. Thalmann war deshalb wohlweislich für eine nicht zu kleine, aber dennoch freie Wählergemeinschaft angetreten. Deren Ziele vertrat er zwar nur halbherzig, aber im Hinblick auf den guten Ruf, den seine Familie seit Generationen in dieser Stadt genoss, waren sie auch nicht hinderlich. Seine persönliche Karriere war ohnehin das Wichtigste für ihn. Darüber hinaus gab es genügend Zündstoff für Protestwähler. Selbst eher konservativ, unterstützte er so zähneknirschend den Antrag seiner Fraktion, die alte Ziegelei als Heim für Asylbewerber zu nutzen.
Das war aber der einzige offenkundig unpopuläre Themenpunkt im Programm seiner Liste gewesen. Die Wahl wurde knapp gewonnen, die Gesinnung aber sogleich verloren: Kaum einmal Bürgermeister, paktierte Thalmann nur noch mit den einstigen Strippenziehern und entmachtete so seine eigenen Weggefährten. Lediglich in der Frage der Ausländerpolitik machte er hin und wieder Zugeständnisse an die Liste, deren Mitglied er immer noch war – zumindest auf dem Papier! Ansonsten herrschten nach wie vor Korruption und Vetternwirtschaft. „Same procedure as every election“, rezitierte Else geräuschlos.
„Aber Herr Bürgermeister, wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?“
„Nun, Ihr Name ist den Leuten in unserer Stadt nach wie vor ein Begriff, auch wenn sie nicht mehr als Kommissarin tätig sind. Sie sind als integer und zuverlässig bekannt …“
„Worauf sich anscheinend alle Männer um mich herum verlassen“, dachte sich Else, „und was sie alle ausnutzen!“
„… und wir hätten für Sie sogar einen sehr attraktiven Listenplatz reserviert“, fuhr das Stadtoberhaupt mit professioneller und erprobter Freundlichkeit fort.
„Zweihundert?“, fragte Else scherzend nach.
Der Politprofi wusste, wie er auf solch einen Einwurf zu reagieren hatte. Die Imitation eines belustigten, herzlichen, aber nicht zu lauten Lachens drang an das Ohr der früheren Polizistin. Das weckte Erinnerungen an Verhörsituationen, in denen Kleingangster ihre Schuld herunterspielen wollten. Als Thalmann dann aber eine Zahl nannte, stockte Else der Atem.
„Zwei? Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Thalmann!“
Listenplatz zwei würde bei Thalmanns Wiederwahl bedeuten, dass sie die Chance hatte, stellvertretende Bürgermeisterin zu werden.
„Das ist mir völlig Ernst! Mein Stellvertreter, Herr Traunstein, scheidet aus gesundheitlichen Gründen zum Ende dieser Periode aus dem Amt und es wäre doch an der Zeit, einmal eine starke Frau auf diesem Posten zu haben, Frau Pr…, äh, Müller!“
„Da haben wir’s“, stellte Else in Gedanken fest, „mein früherer Name! Meine alte Position und natürlich der allseits präsente Name meines Exmanns sind es, was dich an mir überzeugt, und sonst nichts.“
Elses Gehirn wollte turbomäßig alle Möglichkeiten durchchecken, die es gab, solch ein Angebot möglichst diplomatisch abzulehnen. Doch ihr Mund schien der Kommunikationsgewerkschaft beigetreten zu sein und sprach, ohne das Ergebnis des Denkprozesses abzuwarten: „Gut, ich werde es mir überlegen!“
„Vielen Dank, Frau Müller! Sie können mich natürlich jederzeit anrufen, auch privat, um mir Ihre Entscheidung mitzuteilen. Vielleicht können Sie aber auch zu unserem traditionellen Pfingsttreffen in der „Grauen Gans“ kommen – nächsten Samstag, um 19 Uhr.“
„In Ordnung! Ich werde mich melden!“, sagte Else und legte auf.
Das siebte „Pardon!“ innerhalb von eineinhalb Stunden ließ Ilkas Miene noch finsterer werden, als sie ohnehin schon seit der vierten Absage war.
„Soso, Herr Kommissar“, sagte sie mit einer Stimme, die im Niemandsland zwischen Ironie, Spott und Verärgerung zuhause war, „Pfingstferien sind also in Frankreich keine Hauptsaison und es ist absolut nicht nötig, eine Pension im Voraus zu buchen!“
Schuldbewusst zog Fox den Kopf ein – leider hatte er keine Munition für Vergeltungsschläge in der rhetorischen Waffenkammer. So bemühte er sich, argumentativ lieber die Genfer Konvention einzuhalten und abzuwiegeln wie ein überforderter UN-Mandatsträger im Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten.
„Sollten wir vielleicht erst mal was zu Mittag essen?“, nuschelte er in Ilkas Richtung, wobei er umständlich die Fahrertür aufschloss.
„Klar“, gab Ilka angriffslustig zurück, „wir haben ja alle Zeit der Welt, und alle Raststätten und Pensionen in Colmar warten nur darauf, für uns die Betten frisch zu beziehen!“
Die Zentralverriegelung knirschte müde und beide stiegen wortlos ein.
„Okay, ich gestehe“, knurrte Fox, die Landstraße fixierend, „dass ich die Situation mit den Übernachtungsmöglichkeiten falsch eingeschätzt habe. Zugegeben! Aber deine Idee, schon nach der vierten Absage in der Stadt auf den ländlichen Raum auszuweichen, hat sich auch nicht gerade als Hit der Saison erwiesen!“
„Schon gut“, seufzte Ilka und schaltete mit den Worten „Apropos Hit!“ das Autoradio ein.
„No, je ne regrette rien!“, schmetterte Edith Piaf im Brustton vollster Überzeugung durch