Hungerkur und Gänseblümchen. Sonja Reineke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sonja Reineke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847648314
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die beinahe tot umfiel, als Jacqueline mit vor Verlegenheit hochroten Wangen den Besucher hereinführte. Lorena brauchte ein paar Sekunden, bis sie den beleibten Mann in dem teuren Mantel und den inzwischen gefärbten Haaren erkannte. Es war kein anderer als Rüdiger, Jacquelines Vater!

      „Das ist mein Papa“, erklärte sie jetzt auch noch stolz und stellte ihn den Draschoffs vor, die ebenfalls wie vom Donner gerührt waren und ihm nur kurz die Hand drückten.

      Als er sich Lorena zuwandte, verschränkte die die Arme vor der Brust.

      „Mir musst du den Herrn nicht vorstellen, Jacky. Den kenne ich besser, als mir lieb ist. Und das Händeschütteln können wir uns auch sparen, Rüdiger. Von dir hatte ich schon ganz andere Sachen in der Hand, wenn du dich recht erinnerst. Und wir wissen ja beide, was dabei herausgekommen ist.“

      Jacqueline lief puterrot an.

      „Mama!“

      „Das ist nun einmal die Wahrheit. Wieso bist du hier, Rüdiger?“

      Rüdiger, der sich wohl einen herzlicheren Empfang gewünscht hatte, presste die Lippen zusammen.

      „Meine Tochter hat Geburtstag. Da ist es doch wohl ganz klar, dass ich hier bin. Sie hat mich gefunden und eingeladen. Von dir kam ja all die Jahre nichts.“

      Lorena sperrte bei dieser Dreistigkeit den Mund sperrangelweit auf.

      „Von mir ...? Du warst es doch, der mir einen falschen Namen genannt hat! Und da ich hier schon seit über zehn Jahren unter dem Namen ‚Lorena Draschoff’ lebe und sogar im Telefonbuch stehe, hätte es dir keinerlei Mühe bereitet, uns zu finden. Du hattest nur kein Interesse daran!“

      „Lorena“, zischte da ausgerechnet Lorenas Mutter, „so behandelt man keinen Gast!“ Lorena wandte sich zu ihrer Mutter um und sah, wie deren Augen hastig an Rüdigers teurem Mantel herauf- und wieder herunterwanderten. Auch ihr Mann beäugte Rüdiger inzwischen interessiert, aber nicht unfreundlich. Lorenas Blut begann, vor Wut zu kochen.

      „Rüdiger ist nicht mein Gast. Ich habe ihn nie hierher gebeten“, stellte sie klar.

      „Aber ich! Er ist mein Gast“, trumpfte Jacqueline auf. Lorena wandte sich um und sah ihre Tochter fassungslos an. Entschlossen erwiderte Jacqueline ihren Blick.

      „Schön, wenn das dein Gast ist, dann kümmere dich auch um ihn. Kaffee und Kuchen stehen in der Küche.“ Lorena ging selbst in die Küche, um sich wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Ihre Hände zitterten und ihre Kehle war staubtrocken. Rüdiger! Außer mit seinem Dauerauftrag über Jacquelines Unterhalt, den sie sich nach dem Besuch im Swingerclub von ihm erpresst hatte, tauchte er nie in ihrem Leben auf. Nur auf Lorenas Kontoauszug. Und Jacqueline forschte heimlich nach ihm, fand ihn wahrscheinlich über das Internet und lud ihn ohne zu fragen zum Kaffee ein?

      Jacqueline betrat indes die Küche und holte unter lautem Geklapper ein weiteres Gedeck aus dem Schrank.

      „Sag mal, tickst du noch ganz sauber, deinen Erzeuger ohne mein Wissen einzuladen?“, zischte Lorena wütend. Jacqueline zuckte nur mit den Schultern.

      „Ist doch mein Geburtstag, da kann ich ja wohl einladen, wen ich will.“

      „Ach ja? Und wieso ist dieser Chris dann nicht hier?“, gab Lorena ironisch zurück.

      Jacqueline blickte zur Seite, nahm Teller und Tasse, und verschwand aus der Küche. Ganz klar, dass Omi und Opa Chris nicht mögen würden und eventuell dann der Batzen im Umschlag nicht mehr ganz so dick ausfiel, wenn Weihnachten vor der Tür stand.

      „Na warte“, knurrte Lorena und marschierte zum Küchenanschluss, von wo sie mit dem Neontelefon im Achtziger-Look, das sie bei eBay ersteigert hatte, bei Chris anrief. Das war nicht weiter schwierig, ein Druck auf die Wahlwiederholung genügte völlig, denn Jacqueline rief den mindestens zehnmal pro Tag an. Mit gespielter Munterkeit fragte Lorena ihn, ob er nicht Lust habe, herüberzukommen.

      Zehn Minuten später klingelte es an der Tür und dieses Mal war es Lorena, die aufmachte. Jacqueline, die sich sehr angeregt mit ihrem Vater und den Großeltern im Wohnzimmer unterhielt, kam nicht mal zur Tür. Ihre Gäste waren ja alle da. Falls noch Freundinnen ihrer Mutter wie diese komische Cecilia oder die dicke Maja kommen sollten, war das für sie nicht weiter interessant. Die schenkten selten Geld, vor allem Maja.

      „Hi“, murmelte Chris. Lorenas Gesicht erhellte sich, als sie sah, dass er mindestens drei Tage nicht mehr geduscht hatte, ein schmieriges Käppi auf den fettigen Haaren trug und das einzig gepflegte an ihm seine Turnschuhe waren, die neu und teuer aussahen. Der Rest war Gammler pur und die Draschoffs würden hoffentlich den Schock ihres Lebens bekommen.

      „Komm rein, Chris“, flötete sie mit einem teuflischen Funkeln in den Augen. „Alle sind schon im Wohnzimmer und warten auf dich.“ Lorena schauderte, als sie daran dachte, dass der eklige Typ gleich auf ihren schönen neuen Möbeln sitzen würde.

      Wortlos ging Chris mit diesem lässigen Schritt ins Wohnzimmer, den heute so viele Jugendliche drauf hatten und der von einem riesigen, aber nicht gerechtfertigten Selbstbewusstsein zeugte. Schnell folgte sie ihm, denn sie wollte die Reaktion ihrer Eltern nicht verpassen.

      Als Chris zur Tür hereinkam, senkte sich sofort entsetzte Stille über den Raum. Frau Draschoff blieb der Mund offen stehen, Herr Draschoff verengte die Augen und presste angewidert die Lippen zusammen.

      „Tach, babe“, brachte Chris hervor und küsste Jacqueline auf den Mund.

      „Chris ... aber ... wir waren doch später verabredet ...“ Jacqueline wurde vor Verlegenheit knallrot. Panisch schossen ihre Augen von Omi zu Opa. Dass auch Daddy Rüdiger Chris recht unfreundlich betrachtete, fiel ihr gar nicht auf.

      „Ich habe ihn eingeladen. Er ist mein Gast“, sagte nun Lorena. „Ich fand, deine Großeltern sollten ruhig sehen, mit wem du zusammen bist. Ich denke, da war ich in deinem Alter besser dran. Zwar war mein Freund viel älter als ich, ein gewissenloser Schürzenjäger und schrecklicher Lügner, aber der hatte wenigstens Geld in der Tasche. Immerhin hat er das Kino und später das Hotelzimmer bezahlt. Bei euch bist ja meistens du es, die ihm immer die Kohle in den Rachen wirft, stimmt’s etwa nicht? Jedenfalls habe ich erst vor kurzem gesehen, wie du Chris um die zweihundert Euro zugesteckt hast.“

      Jacqueline lief noch röter im Gesicht an. Beinahe tat sie Lorena leid, aber nur beinahe.

      Auch die Draschoffs sahen peinlich berührt aus, aber bei Lorenas letzten Worten horchten sie auf.

      „Du gibst ihm Geld?“, fragte nun die Omi.

      „Äh ... na ja ...“

      „Ist doch ihre Sache, was sie mit ihrer Kohle macht“, versetzte Chris barsch. Er hing in Lorenas Sessel wie ein Schluck Wasser in der Kurve.

      „Das war für die Spielkonsole, die Chris für mich bei eBay ersteigert hat“, erklärte Jacqueline hastig.

      „Und wo ist die nun?“, fragte Lorena.

      „Kommt noch. Der Typ hatte Versandprobleme.“ Chris wischte alle Bedenken vom Tisch. Jacqueline nickte heftig.

      „So? Seit drei Wochen Versandprobleme? Dann würde ich das Geld aber mal schnell zurückholen, sonst ist es futsch“, knurrte Lorena. Nun mischte sich auch noch Rüdiger ein.

      „Drei Wochen? Klingt nicht sehr realistisch. Die Teile für mein Auto waren nach zwei Tagen schon ...“

      „Halt dich da raus, du Otto!“, schrie Chris da auf einmal, „wenn ich sage, der hatte Versandprobleme, dann stimmt das auch!“

      „Ruhig Blut, Bürschchen! So sprichst du nicht mit mir!“ Rüdiger erhob sich mühsam aus Lorenas Couch. Trotz seines Alters und des dicken Bauches war er noch immer ein sehr imposanter Mann. Aber Chris lachte nur.

      „Was willst du schon, du Tonne!“ Er lachte aber nicht mehr, als Rüdiger ihn am Kragen packte und aus dem Sessel zerrte.

      „Hey ...! Was ...!“ Chris trat nach Rüdiger, aber der zerrte den Hänfling einfach