„Da du ja nicht in das Basketballcamp willst, schlage ich dir vor, dieses Jahr in ein anderes Feriencamp zu gehen. Eventuell ein fremdsprachliches...übrigens... was wirst du denn für eine Englischnote im Zeugnis bekommen?“
„Wahrscheinlich eine Vier“, antwortet Niko kleinlaut und noch leiser, „vielleicht eine Fünf .“
Die schlechte Note scheint Nikos Papa gar nicht so wichtig. Für ihn ist sie im Moment ein gutes Argument Niko zu überzeugen, dieses Jahr die Ferien in einem Camp zu verbringen.
„Entschuldigung, wenn ich mich einmische“, wendet sich ein Gast neben Nikos Papa an die beiden. Er hat eine heisere Stimme mit fremdländischem Akzent.
„Ich habe mitbekommen, dass sie über ein Feriencamp diskutieren. Unser , äh ..“ Er scheint nach dem richtigen Wort zu suchen. „Ja, Sohn, äh, Enkelsohn hat letztes Jahr seine Ferien in einem Camp verbracht und war voll begeistert. Vor allem hat es ihm, was seine Note in Englisch betrifft, sehr gut getan. Ich kann Ihnen gerne die Adresse geben. Sie finden sie auch unter www.campo-estivo....
„Vielen Dank, das klingt nach Italien, das schauen wir uns an.“
„Sie haben recht, das Camp befindet sich in einem abgelegenen Tal in den Bergen nördlich von Milano, schwer zu finden und sehr abenteuerlich. Du wirst dort bestimmt interessante Dinge erleben, Niko.“
Als ihn Niko über den Tisch hinweg anschaut, hat der Fremde sich zurückgelehnt, sodass sein Gesicht in dem schummerigen Licht der Kerzen, die auf den Tischen im warmen Abendwind flackerten, kaum zu erkennen ist. Die weiße Hand, die langsam das Weinglas auf dem Tisch dreht, ist knöchrig. Obwohl sie nicht zu der Stimme passt, muss der Mann sehr alt sein, denkt Niko, und ein kribbeliges Gefühl steigt in ihm hoch.
Er spürt, dass der Mann ihn betrachtet. Für einen kurzen Moment sieht er das Aufglühen seiner Augen, oder spiegelt sich nur das Streichholz, mit dem die Dame am Nebentisch ihre Zigarette anzündet?
Schnell wendet sich Niko zu seinem Vater hin, der sich gerade die Web-Adresse auf eine Papierserviette notiert.
„Ich weiß nicht …,“ nörgelt Niko und langt über seinen Teller nach den Arm seines Vaters.
„Ich finde den Tipp super“, bemerkt sein Vater und fährt mit dem Kugelschreiber die Buchstaben auf der Serviette noch einmal nach. Als Niko ihn leicht am Unterarm rüttelt blickt er hoch.
„Wir schauen uns das `mal auf deren Website an, danach kannst du dich immer noch entscheiden“, beruhigt er Niko mit gedämpfter Stimme und blickt ihn dabei auffordernd an.
„Wir sollten uns aber erst einmal bei dem Herrn für den Tipp bedanken.“
Mit einem freundlichen Lächeln wenden sie ihren Kopf zur Seite, aber der Stuhl neben Nikos Vater ist leer. Nur das Weinglas steht noch halb voll neben der fast abgebrannten Kerze.
Fünf
Gertrud ist schwanger. Es kann jeden Tag passieren. Alle auf dem Hof sind aufgeregt, selbst Babu der, wenn er sich nicht gerade auf Mäusejagd befindet oder gemütlich auf der Fensterbank schnurrt, hat sich verdrückt. Als ob es das erste Mal wäre, dass im Kuhstall Nachwuchs erwartet wird.
„Morgen früh kommt der Veterinär – oder kommt er schon heute - nein übermorgen?“Julias Eltern stehen vor ihrem Wandkalender.
„Du hast hier irgendetwas durchgestrichen und überschrieben, weißt Du noch, was für ein Termin das war?“
„Ich glaube das war der Termin, den uns Dr. Bichler zuerst genannt und dann verschoben hat. Also kommt er heute. Ach ja, morgen müssen wir Julia zum Ferien-Camp fahren.“
„Julia, Juliaaaa, hast du schon deine Sachen für das Ferien-Camp gepackt?“
Keine Antwort. „Hast du Julia gesehen?“
„Sie kümmert sich bestimmt um Gertrud, ich werde sie fragen, ich muss sowieso hinüber in den Stall.“ Julias Vater schaut noch einmal mit zusammengezogenen Augenbrauen auf den Kalender, schüttelt den Kopf und verlässt das kleine Büro.
Julia steht neben Gertrud, sie hat ihren Kopf an ihren Hals gelegt. „Meine arme, bald bist du erlöst, das wird bestimmt das schönste Kälbchen was wir je hatten“.
Sie streicht dabei sanft über Gertruds dicken Bauch.
„Da bist du ja, ich habe es mir gedacht.“ Julias Vater legt zärtlich seinen Arm um die Schulter seiner jüngsten Tochter. „Ich schätze, sie wird übermorgen, wahrscheinlich erst in drei Tagen kalben, schade, dass du nicht dabei sein kannst.“
„Wieso, ich habe doch das letzte Mal auch mit geholfen, das Kälbchen mit Stroh trocken gerieben und, wenn es Nacht wird, kann ich aufbleiben, ich habe doch schon Ferien.“
„Eben, wir haben beinahe vergessen, dass morgen dein Ferien-Camp beginnt und ich dich zum Sammelpunkt bringen muss.“
„Da habe ich nicht mehr daran gedacht, ich wäre so gerne bei Gertrud geblieben. Du weißt, sie ist meine Lieblingskuh, sie ist die schönste.....“
„Wir haben über zwanzig Kühe und unser Herrmann ist der kräftigste Stier in unserer Region, da wirst du nicht lange auf das nächste Kälbchen warten müssen. Aber jetzt geh in dein Zimmer und pack deinen Rucksack. Sage Mama Bescheid, sie will dir helfen“, unterbricht sie ihr Vater lachend, gibt ihr einen Kuss auf die sommersprossige Nasenspitze und dreht Julia in Richtung Stalltüre.
Julia hüpft auf einem Bein über den asphaltierten Hof, nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie übermütig die Holztreppe zu ihrem Zimmer hochspringt, sie freut sich auf das Camp obwohl sie es fast vergessen hat.
„Ich komme gleich und helfe dir beim Packen!“ ruft ihre Mutter, die sie die Treppe hochspringen hört, aus der Küche.
Julia stürmt in ihr Zimmer und hechtet außer Atem auf ihr rot-weiß-kariert bezogenes Bett. Dort hatte es sich aber schon Babu gemütlich gemacht. Mit einem beleidigten “Miau“ kriecht er noch weiter unter das Kopfkissen.
„Lege alles was du brauchst auf deinen Schreibtisch, ich helfe dir es so einzupacken, dass es nicht gar so zerknüllt wird.“Julias Mama ist in das Zimmer gekommen und knuddelt ihre Tochter.
„Mama ich möchte gerne meine Reithose und Reitstiefel mitnehmen“
„Da brauchst du noch eine Reisetasche, ich hole dir meine.“
Babu kommt beunruhigt unter dem Kopfkissen hervor und beobachtet das Treiben der beiden. Jedes Mal, wenn gepackt wurde, war danach das Haus leer, es begann dann für ihn eine Zeit der Einsamkeit. Er springt vom Bett herunter um sich unter dem Bett auf die Lauer zu legen.
Als Julia ihre Reitstiefel in die Reisetasche legen will, bemerkt sie, dass diese innen nass ist. Sie reicht sie ihrer Mama.
„Die kann ich so nicht nehmen!“
Ihre Mama zieht den Reißverschluss ganz auf, riecht hinein. „Dieser Schlawiner hat wieder in die Tasche gepinkelt!“
Zornig schaut sie sich um, eine Sandale wurfbereit in der Hand, aber Babu hat sich schon aus dem Zimmer geschlichen. Das ist sein Protest gegen das Alleinegelassenwerden.
Julias Papa steckt den Kopf ins Zimmer. „Ich habe gerade im Radio den Wetterbericht für Italien gehört, die nächsten Tage werden kühl und regnerisch. Also Anorak, Wanderschuhe, die........“ „Paapaa !“ Julia zieht die Luft geräuschvoll durch die Nase. „Ich bin kein Baby mehr!“
„Wenn ich mich recht erinnere, werden die Kinder nachmittags um drei Uhr am Meeting-Point mit dem Camp-Bus abgeholt das heißt, wir müssen ziemlich früh starten. Mama kann leider nicht mitfahren, jemand muss hier bleiben,