„Dein Vater hatte gestern Abend noch eine tolle Idee, was du in deinen Ferien machen könntest. Da wird von einem Club ein Sommercamp für Schüler angeboten, mit Sport, Abenteuerausflügen, ach und einem Haufen anderer toller Sachen.“
Sie merkt nicht, dass Peters Augen sich mit Tränen füllen.
„Und du lernst jede Menge Jungen und Mädchen kennen. Vielleicht findest du auch einen Freund, du bist sowieso viel zu viel alleine.
So, wir sind schon da. Ich verspreche dir, nächstes Jahr fahren wir gemeinsam in Urlaub, wohin du willst.
Tschüss, mein Schatz, lerne etwas und sei brav.“
Peter steigt aus dem Auto, der Rucksack ist viel schwerer als sonst. Er will nicht winken, vergräbt beide Hände tief in den Hosentaschen, blickt auf den bunt gepflasterten Weg, der quer über den Schulhof führt. Immer diese tollen Sprüche. Er spürt, wie ihn die Augen vor Wut und Enttäuschung brennen.
Hoffentlich spricht mich keiner von diesen “Knallköpfen“ an denkt er, läuft in Richtung Toilette, dort ist um diese Zeit niemand und schließt sich ein.
Er wischt sich die Tränen aus den Augen und überlegt, ob er ins Sekretariat gehen soll, um zu melden, dass er wegen Bauchschmerzen nicht am Unterricht teilnehmen kann.
Selma kann nicht Autofahren und seine Eltern haben ja keine Zeit um ihn abzuholen. So entscheidet sich Peter, doch in das Klassenzimmer zu gehen.
Die erste Stunde Französisch. Die Lehrerin wartet schon und teilt Blätter für eine Ex aus. Bis auf die zwei Einser-Mädchen protestiert der Rest der Klasse.
Sie hatte versprochen, so kurz vor den Ferien gibt es keine Ex mehr.
„So sind die Erwachsenen“, denkt Peter zornig, „sie versprechen etwas und halten es nicht.“
Drei
Als sie Elsa schlachten rennt Julia in die Scheune, steigt die Leiter hinauf zum Heuboden und wirft sich in das getrocknete Gras. Hier oben im Heu eingegraben kann sie weinen, ihren Schmerz, die ihr zugefügten Ungerechtigkeiten, hilflose Wut, mit Tränen aufweichen.
Heute ist so ein Tag, der sie mit Traurigkeit und Wut erfüllt.
Julia liebt Elsa seitdem sie klein, weiß, so nackig auf die Welt kam. Elsa war das kleinste der sieben Ferkel und sie kam
nie rechtzeitig, noch besaß sie die notwendige Rücksichtslosigkeit, wenn sich ihre Geschwister hungrig um die Zitzen am Mutterbauch drängten.
In der hintersten Ecke eines wackeligen Regals in der Speisekammer hatte Julia damals die mit Teddybären bemalte Nuckelflasche ihres jüngsten Bruders gefunden. Wenn die Kühe gemolken wurden, holte sie sich aus dem großen glänzenden Edelstahlbehälter ein Fläschchen voll warmer, frischer Milch. Elsa hatte sich sehr schnell an den schon porösen Schnuller gewöhnt, leerte schmatzend das Fläschchen und kuschelte sich danach zu einem Mittagsschläfchen in Julias knallrote Schürze.
Bald war Elsa das rosigste, kräftigste und schlaueste Schweinchen in der Umgebung. Es begleitete Julia überall hin und folgte ihr auf ‘s Wort.
Obwohl ihr Vater schon Unterstellplätze für private Reitpferde in die stabilere der beiden Scheunen eingebaut hat und auch alle Boxen belegt sind, die zweiundvierzig braun weiß gefleckten Milchkühe die meiste Milch in der Region ihren tief hängenden Eutern sammeln und Herrmann, der kräftige Bulle mit dem glänzenden hellbraunen Fell bei der letzten Landwirtschaftsschau prämiert wurde, reicht das Geld, das sie mit all dem verdienen, gerade für das tägliche Leben. Besondere Wünsche können zurzeit nicht erfüllt werden. Nach der Übernahme des Bauernhofes von seinem Vater hatte Julias Papa eine Menge Geld für die Modernisierung des Hofes von der Bank geliehen.
Julias Zimmer mit den warmen Holzdielen liegt direkt über der guten Stube und so hat sie letzte Nacht durch die Holzdecke hindurch ihre Eltern streiten hören.
„Das kannst du Julia nicht antun und Elsa verkaufen oder einfach schlachten.“, hört sie ihre Mutter sagen.
„Elsa ist das letzte Jungschwein, im Moment ist der Kilopreis so hoch wie nie und wir brauchen das Geld!“ Vater Heinrichs Stimme klingt zornig.
„Julia ist alt genug um es zu verstehen“. Seine Stimme hat nun einen zärtlichen Unterton.
Meistens hat Julia ihre Eltern durch den Holzboden lachen gehört. Manchmal haben sie auch gemeinsam musiziert, Gitarre und Zither gespielt. Aber in der letzten Zeit ist das immer weniger und ruhiger geworden. Ihre Eltern haben Sorgen.
Dass Elsa nicht für alle Zeiten im Hof, im Garten, zwischen den Boxen, sogar im Haus grunzend, schnüffelnd, vor Aufregung quiekend herumwühlen würde, war Julia schon oft in den Sinn gekommen. Aber ausgerechnet zwei Wochen vor den großen Ferien; das ist nicht fair.
Julia ballt mit traurigem Zorn ihre Fäuste und kriecht noch tiefer in das Heu.
Mit geschlossenen Augen vernimmt sie ein leises Rascheln und spürt wie jemand an ihren nackten Füßen kitzelt. Erschrocken reißt sie die Augen auf, schaut an ihren braunen Beinen entlang und sieht Babu.
Babu hat ein graues, lila schimmerndes Fell und blaue Augen. Er spürt immer, wenn einer in der Familie leidet. Als Opa letztes Weihnachten mit einem Hexenschuss nicht mehr aufrecht laufen konnte, sprang Babu zu ihm auf das Sofa, zwängte sich zwischen Lehne und Opas Rücken und wärmte die Stelle an der Opa die meisten Schmerzen hatte.
Schnurrend setzt der Kater eine Pfote vor die andere, bis er sich ganz nahe vor Julias Gesicht nach drei Umdrehungen, ins Heu einrollt. Er reibt seinen Kopf sanft an Julias Wange und legt ihn dann vorsichtig in die Kuhle unterhalb von Julias Hals.
Beide liegen ganz still. Irgendwann fühlt Julia ihrer beider gleichmäßigen Atem.
Babus Schnurrhaare kitzeln Julia am Kinn. „Du verstehst mich“, flüstert Julia; eine letzte Träne rollt ihr über die Wange.
„Juuliaa!“ Ihre Mutter kennt das Nest, in das Julia sich stets flüchtet, wenn sie alleine sein will. „Komm herunter, es ist vorbei!“
Babu hebt den Kopf und verschwindet im Heu. Julia wischt sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts die Nase, sie wäre am liebsten mit Babu eingeschlafen.
„Ich komme gleich, “ antwortet sie trotzig.
„Nix gleich, wir müssen noch die Wäsche von der Leine nehmen und Hausaufgaben hast du bestimmt auch noch nicht gemacht, oder?“
„Vor den Ferien haben wir nicht mehr viel auf.“ Julia fährt sich mit ihren braunen, kräftigen Händen durch das kurzgeschnittene, wuschelige, blonde Haar und klopft sich das Heu von den Shorts.
Als sie die Leiter hinuntersteigt und von den letzten vier Sprossen auf den staubigen Scheunenboden springt, hört sie ihre Mutter seufzen. „Ach, ihr habt ja bald Ferien.“
„Dieses Jahr fahren wir doch ans Meer, alle meine Freundinnen verreisen mit Ihren Eltern in den großen Ferien.“
„Vor lauter Arbeit habe ich gar nicht mehr daran gedacht, Papa bestimmt auch nicht.“
Enttäuscht schiebt Julia ihre Unterlippe vor und würde am liebsten wieder hinauf in die noch warme Kuhle im Heu steigen.
„Nicht gleich wieder traurig sein.“ Zärtlich drückt die Mama Julia an ihren weichen Bauch. „Wir werden das heute beim Abendessen mit Papa und deinen Geschwistern besprechen. Komm, lass uns die Wäsche abnehmen. Ich glaube, heute Abend zieht von Westen ein kräftiges Sommergewitter auf.“
Die Luft ist schon schwül, als sie aus der Scheune hinaus und hinüber zur Wiese gehen, wo die Wäsche an den zwischen den Obstbäumen gespannten Leinen flattert.
Julia schiebt ihre kleine Hand in die raue Hand ihrer Mama und sagt