Said dachte an das Ritual der Tanzenden Derwische im Konvent zurück. Wenn die Musik die Macht hatte, die Derwische derart in Ekstase zu versetzen, war es kein Wunder, dass sie auch Kranke heilen konnte.
Nach kurzer Überlegung strich Ibrahim das Hamam aus dem Programm. Denn auch wenn Eleftheria erst sechs Jahre alt war, würde man ihr den Zutritt ins Männerbad nicht gestatten. Er versprach den Jungen, den Besuch ein anderes Mal nachzuholen, und geleitete sie stattdessen ins Obergeschoss des dreistöckigen Komplexes. Von hier oben aus verwalteten er selbst, Garbis und Salih Hodscha alle Bereiche der Stiftung. Von der Armenküche, bis hin zu der Schule und die Bücherei.
„Hier also residiert mein Vater“, prahlte Hagop mit einem Grinsen auf dem Gesicht, und Said und Mersed ergänzten wie aus einem Munde:
„Und mein Vater!“
„Und mein Onkel!“
Die Kinder lachten.
„Residenz kann man das wohl kaum nennen, Hagop. Erstens bekommen wir hier kein Geld für unsere Arbeit, und zweitens wollen wir das Residieren doch lieber den Sultanen und Königen überlassen. Und außerdem: Kannst du dir vorstellen, dass ein Sultan den halben Tag einer geregelten Lohnarbeit nachgeht, um dann nachmittags seinen Thron zu besteigen oder in die Schlacht zu ziehen?“
Diesmal lachten sie noch lauter.
Trotzdem blieb Ibrahim nicht verborgen, dass gerade dieser Raum sie aufgrund seiner vornehmen Ausstattung mit großer Ehrfurcht erfüllte. Jedenfalls ließen sie es sich nicht nehmen, alles genau zu inspizieren und Ibrahim allerlei Fragen zu stellen, die er ihnen mit Engelsgeduld beantwortete.
Anschließend geleitete er sie aus dem Gebäude und zurück auf die Straße. Die Führung war beendet. Ibrahim eilte zum Abendgebet in der Moschee, und die Kinder gingen nach Hause.
Im Hof saß Afife auf einem Schemel vor einem Holztablett, als sie zurückkamen. In der Hand eine Walze, mit der sie Teigklumpen zu dünnen Börek-Blättern ausrollte, die sie anschließend mit einem Gemisch aus Schafskäse und Spinat füllte.
„Na, habt ihr eure Neugier gestillt?“, fragte sie die Jungen.
„Ja, nur das Hamam haben wir nicht gesehen“, erwiderte Said und wollte gerade ansetzen, ihr genauer zu berichten, als Betim ihm das Wort abschnitt.
„Ich würde gern einen Brief an meine Großmutter schreiben.“
Das hatte er sich zwar schon oft vorgenommen, aber immer wieder aufgeschoben, obwohl er genau wusste, wie sehr sie und sein Vater sich nach einer Nachricht von ihm verzehren mussten.
„Natürlich, Betim. Said, zeig ihm, wo das Schreibzeug liegt.“
Said holte ihm ein Blatt Papier, einen Schreibpinsel und ein Tintenfass. Dann schrieb Betim in seiner Muttersprache:
Liebe Großmutter, lieber Vater, meine lieben Geschwister. Seit einem Jahr lebe ich nun schon bei meiner türkischen Familie in Istanbul. Und fast genauso lang besuche ich schon die Schule, was mir viel Spaß macht. Vater Krikor und mein Lehrer, Pater Varujan, loben meine Leistungen. Auch habe ich schon so einiges über die Sitten und Gebräuche der Menschen hier gelernt. Ibrahim, unser Hausherr, und seine Familie behandeln mich gut. Und auch das Viertel, in dem wir leben, gefällt mir.
Es grüßt Euch
Euer Betim
Dies war jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn in Wirklichkeit ließen Betims schulische Leistungen zunehmend zu wünschen übrig, und auch sein Verhältnis zu seiner Ziehfamilie war nicht mehr ganz ungetrübt. Mersed und er waren enge Freunde geworden, aber mit Said hatte er sich eigentlich nur am Anfang gut verstanden; zu unterschiedlich waren ihre Interessen gelagert. Ibrahim und Afife waren freundlich zu ihm, aber er wusste, dass ihnen seine Gleichgültigkeit und sein Desinteresse missfielen. Natürlich erwähnte Betim das in dem Brief mit keiner Silbe.
Am nächsten Morgen verließen Said und Betim nach dem Frühstück zusammen das Haus. Weil Betim den weiteren Schulweg und daher weniger Zeit hatte, bot Said ihm an, seinen Brief bei Sami abzugeben. Denn Sami war nicht nur Kaffeehausbetreiber, sondern in gewissem Sinne auch Barbier und Postbote. In einer Ecke seiner Stube stutzte er seinen Kunden die struppigen Bärte, in einer anderen sammelte er Briefe, die man ihm übergab, um sie später an die sogenannten Posttataren weiterzureichen.
Diese organisierten den Versand von Schriftstücken über ein dichtes Netz von Gasthöfen und Karawansereien im ganzen Osmanischen Reich, auch abseits der größeren Städte. Sie kamen nicht täglich in das Viertel, aber Betim hatte Glück, da sie schon am nächsten Tag erwartet wurden.
***
„Erkennt Ihr mich denn nicht wieder?“, fragte der Offizier Halil Agha, nachdem dieser ihm die Haustür geöffnet hatte.
„Ahmed, bist du es wirklich?“
„Ja, so klein ist die Welt.“
„Erzähl mir, was führt dich zu uns, Ahmed?“
„Als Ihr unsere Janitscharenkompanie verlassen habt, war ich Kommandeur vom Rang eines Za?arc?baş?. Aber schon bald darauf wurde ich zum Kethüda befördert. Ich bin also zum Präfekt und Stellvertreter des Aghas von unserem Korps aufgestiegen. Zu meinen Aufgaben gehörte es daher, die in den Provinzen angeworbenen Knaben in ihren Ziehfamilien zu besuchen und zu prüfen, ob sie sich gut entwickelten.
„Und du bist gekommen, um nach Betim zu schauen, nicht wahr?“
„Ihr habt es erraten. Aber wahrscheinlich ist er in der Schule, oder?“
„Ja, er kommt erst am Nachmittag zurück. Soll er sich bei dir melden?“
„Nein, nein, nicht nötig. Es genügt mir zu wissen, dass er bei Euch lebt. Ich vertraue Euch voll und ganz. Schließlich wart Ihr jahrelang unser Agha.“
„Danke, Ahmed. Und die Awaris-Steuer, die wir für ihn zahlen müssen, fließt dir mit den Tributzahlungen aus der Stiftung zu. Mach dir darüber keine Gedanken.“
„Wie gesagt, Halil Agha, ich vertraue Euch voll und ganz. Bis bald“, sagte der Präfekt und schlug Halil Aghas Einladung ins Haus zu einem Kaffee höflich, aber bestimmt aus.
Nur reiche und erhabene Menschen erklärten sich bereit als Ziehfamilie für die rekrutierten Knaben. Denn ihre Kosten, die mit ihm stiegen, wurden nicht vom Staat abgedeckt. Es war genau andersherum: Eine Art Freiwilligenarbeit, die sie sogar zu versteuern hatten. Damit erbrachten die Menschen dem Staat, ihrem Schutzpatron, als Gegenleistung dafür, dass sie unter seiner Obhut lebten, solche Dienste.
Kapitel 6
1772
Der Winter kam überraschend früh in diesem Jahr. Seit Wochen schon fror die Stadt unter einer weißen Decke. Wer keinen dicken Mantel besaß, trollte am ganzen Leib zitternd durch die Gassen. Die Kälte setzte den Menschen zu, doch das Leben im Viertel ging weiter. Sie gingen ihren alltäglichen Bedürfnissen nach. Überall schimmerten nach Einbruch der Dunkelheit Gaslampen, die auf dem Schnee wie glitzernde Sterne wirkten.
Vor einigen Wochen waren die drei heiligen Monate des islamischen Kalenders angebrochen, sodass sich die Menschen anders als sonst auch noch abends versammelten; die Frauen auf dem Marktplatz bei Kaffee und Kuchen, die Männer in Samis Stube, die Kinder in den Gassen zum Spielen. Und in diesem Jahr fiel auch das Neujahrsfest der christlich-orthodoxen Untertanen des Sultans in den Zeitraum. Sie feierten es am Dreikönigstag mit einer großen Wasserweihe und gedachten dabei der Taufe Christi.
Als er seinen Freund Ibrahim am Vorabend dieses Festes in Samis Kaffeehaus traf, lud Garbis, der armenische Schneidermeister, ihn kurzerhand dazu ein, seine Familie am nächsten Tag in den Gottesdienst zu begleiten. Ibrahim nahm die Einladung gerne an.
„Das freut mich, Ibrahim. Ich selbst schäme mich fast, weil ich jetzt schon dreiundvierzig Jahre alt bin und noch nie bei einem religiösen Fest der Muslime