Machtkampf am Bosporus. Said Gül. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Said Gül
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098839
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und Betim wusste auch schon wo. An der Decke im Flur des Obergeschosses festgebunden hing eine Leiter, die man mit einer Leine herunterziehen konnte, um dann durch eine Luke in eine Dachkammer hinaufzusteigen. Die Zeit eilte. Destegül übernachtete heute bei ihrer Cousine, aber Ibrahim und Afife konnten jeden Augenblick nach Hause kommen. Deshalb forderte er Mersed auf, Said abzulenken.

      In der Kammer befanden sich vor allem Lebensmittelvorräte. Diese wurden den Sommer über im kühlen Erdgeschoss aufbewahrt und im Winter dann hier oben gelagert. Fehlte nur noch ein geeignetes Versteck für die Geldbeutel, und das fand er unter einer losen Holzplanke auf dem Fußboden, die sich nach oben bog und nur noch von einem einzigen Nagel gehalten wurde. Betim verstaute die Beutel in dem Loch und klemmte die Planke anschließend wieder fest. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich darunter ein wahrer Schatz verbarg. Sogar ihm selbst würde es wahrscheinlich schwerfallen, die Stelle wiederzufinden: die dritte Fußbodenplanke hinter der großen Holzstrebe, das durfte er nicht vergessen.

      Als Betim wieder herunterstieg, fiel ihm ein großer Steinbrocken vom Herzen. Said und Mersed saßen auf der Fensterbank und schauten auf die Straße hinaus, und auch von Ibrahim und Afife war nichts zu sehen. Niemand hatte mitbekommen, wo er gerade gewesen war.

      „Ihr beide müsst morgen früh in die Schule und ich in die Kirche zur Neujahrsmesse. Lasst uns die Decken aus dem Schrank holen und schlafen“, schlug Betim den anderen beiden vor. Und als er wenig später auf seiner Matratze lag und die Augen schloss, verspürte er vor allem eines: Stolz auf sich selbst und seinen Wagemut.

      Der nächste Morgen war für Said ein ganz gewöhnlicher Schultag, während Ibrahim, Afife und Betim ihren Nachbarn Garbis wie versprochen zur Neujahrsmesse in die Surp-Sarkis Kirche begleiteten.

      Direkt vor ihrem Haus stießen sie auf Garbis und seine Familie, und auf dem Marktplatz dann auch auf Lisias und Daphne mit Eleftheria und Stavros, die schon ungeduldig auf die Armenier warteten.

      „Guten Morgen Ibrahim, hast du dich verirrt?“, grüßte Lisias gut gelaunt. Deine Medrese liegt doch in der anderen Richtung, oder wollt ihr so früh schon in die Moschee?“

      Als ihm Garbis verriet, dass Ibrahim und Afife mit ihnen in die Messe kommen würden, verbesserte das Lisias' ohnehin schon gute Laune noch weiter.

      Eine knappe halbe Stunde später standen sie vor der Kirche der orthodoxen Armenier am Bosporus. Gerade noch rechtzeitig, denn an Feiertagen wie diesem herrschte immer großer Andrang. Und an keinem anderen Tag im Jahr war die Messe so gut besucht wie am Neujahr.

      Kaum hatten sie in der letzten Reihe Platz genommen, setzte auch schon die musikalische Begleitung der Psalmen ein, die gemeinsam gesungen wurden. Danach trug Vater Krikor, in eine lange, pechschwarze Kutte mit Kapuze gekleidet, Verse aus dem Liturgiebuch Mastoc vor. Vorn auf seinem Gewand prangte neben einem silbernen Kreuz ein goldener Adler, der die armenische Kirche symbolisierte.

      Anschließend sprach die versammelte Gemeinde einige Bittgebete, dann erhoben sich die Kirchenbesucher geschlossen von ihren Plätzen.

      „Jetzt gehen wir alle zusammen zum Meer hinunter“, klärte Garbis Ibrahim auf. „Dort weiht Vater Krikor das Wasser, indem er das Kreuz dreimal kurz hinein taucht.“

      „Was hat diese Weihe denn zu bedeuten?“, wollte Afife von Tamar wissen.

      „Sie ist vor allem eine symbolische Handlung. Das Wasser wird stellvertretend für die ganze Schöpfung geweiht, die ja auch aus Wasser besteht. Außerdem gedenken wir mit dieser Weihe auch der Taufe unseres Herrn Jesus Christus.“

      Die feierliche Prozession zum Meer und die anschließende Wasserweihe waren die Höhepunkte der Messfeier. Danach standen die Kirchenbesucher noch eine Weile zusammen und zerstreuten sich dann in alle Himmelsrichtungen.

      „Feiert ihr denn gleich zuhause noch weiter, Lisias?“, fragte Ibrahim seinen griechischen Nachbarn auf dem Rückweg ins Viertel. Lisias redete von Natur aus nicht viel. Man musste ihm die Wörter förmlich aus der Nase ziehen, aber am heutigen Tag war er in bester Festtagslaune:

      „Ja natürlich, mit der Familie. Wollt ihr nicht auch kommen? Daphne hat gestern Abend gebacken.“

      „Na dann, auf zu Lisias“, scherzte Garbis und hakte sich bei Ibrahim unter. Einzig an Betim nagte die Unruhe. Was, wenn heute oder in den nächsten Tagen die Spuren der Eindringlinge von gestern Abend entdeckt würden?

      Sami bediente gerade seine Gäste, als er die Kirchbesucher den Marktplatz überqueren sah. Augenblicklich ließ er alles stehen und liegen, stürzte ihnen förmlich entgegen und nahm Ibrahim und Garbis zur Seite. Garbis bedeutete den Frauen, schon einmal ohne sie vorzugehen.

      „Ibrahim, Garbis endlich! Salih Hodscha sucht schon die ganze Zeit nach euch. Er wirkte völlig aufgelöst. Als ich ihn fragte, was los ist, wollte er mir nichts sagen. Aber so habe ich ihn noch nie erlebt. Er wartet in der Stiftung auf euch.“

      Betim löste sich in diesem Augenblick auch aus der Gruppe. Nicht etwa um zu Lisias zu gehen, um mit den anderen noch weiter zu feiern. Er hegte die Absicht, nach Hause zu gehen, um sich von der angeblich anstrengenden Feierlichkeit in der Kirche zu erholen. Er ahnte schon, dass die leere Schatulle, die er gestern Nacht leergeräumt hatte, der Grund für Samis Aufgebrachtheit war. Während dessen gingen Ibrahim und Garbis schnellen Schritts in die Stiftung.

      Im Hof des Gebäudes begegneten sie zwei Soldaten, die ihnen berichteten, dass der Naib, der Hilfsrichter von Galata, in einer dringenden Angelegenheit in die Verwaltung gerufen worden sei.

      „In einer dringenden Angelegenheit?“, stutzte Ibrahim. „Was in aller Welt könnte denn bei uns so dringlich sein?“

      „Komm, lass uns keine Zeit verlieren. Wir gehen nach oben und besprechen die Sache mit Salih Hodscha“, mahnte ihn Garbis zur Eile.

      Die Tür der Verwaltung im Obergeschoss stand weit offen. An Ibrahims Schreibtisch saß ein in einen langen Mantel gekleideter vollbärtiger Mann mit einer hohen Kopfbedeckung, der sich ihnen als Naib vorstellte, als Stellvertreter des Kadi, des obersten Richters. Als solcher führte er Ermittlungen durch und durfte auch Urteile sprechen. Ibrahim und Garbis wunderten sich nur, dass sie beide ihn nie zuvor gesehen hatten. Auch wenn diese Beamten dienstlich nicht örtlich gebunden waren, mussten sie einem solchen Mann bereits einmal begegnet sein. Neben ihm stand Salih Hodscha in einer fast als unterwürfig zu bezeichnenden Haltung. Ibrahim und Garbis begrüßten den Hilfsrichter und fragten ihn:

      „Verratet Ihr uns, was Euch hierher führt?“

      „Salih Hodscha hat heute Morgen bemerkt, dass das Geld der Stiftung verschwunden ist. Daraufhin hat er uns sofort verständigt. Wir untersuchen gerade, ob eingebrochen wurde oder was sonst vorgefallen sein könnte. Erst jetzt entdeckte Ibrahim die Holzschatulle, die offen und leer auf seinem Schreibtisch stand. Er war fassungslos.

      „Von dem Geld fehlt jede Spur, genau wie von den Dieben.“

      „Aber das ist doch unmöglich. Wer käme denn auf die Idee, hier einzubrechen? Ausgeschlossen. Unsere Stiftung gehört doch allen Menschen hier im Viertel“, stammelte Garbis.

      „Vielleicht jemand von außerhalb des Viertels“, schlug der Hilfsrichter vor. „Noch wissen wir es nicht. Unsere Untersuchungen laufen noch, und dafür werdet auch Ihr mir gleich Rede und Antwort stehen müssen. An Euch, Salih Hodscha, habe ich vorläufig keine weiteren Fragen mehr. Ihr könnt gehen.“

      Und so befragte der Hilfsrichter Ibrahim und Garbis im Beisein von zwei Soldaten, was jedoch keine weiteren Erkenntnisse zu Tage förderte. Tatsache war, dass das Geld nicht mehr an seinem Platz lag. Einbruchsspuren fanden sich keine, aber die Türen waren ja ohnehin nicht verschlossen gewesen. Folglich konnte durchaus jemand in das Gebäude eingedrungen sein.

      Im Laufe der Befragung kam der Hilfsrichter aber von diesem Gedanken ab.

      „Ihr habt Recht. In all den Jahren ist noch nie jemand in das Stiftungsgebäude eingebrochen. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt geändert haben? Ihr beiden dagegen habt freien Zugang zu dem Raum und wusstet, wo das Geld deponiert war.“

      Schockiert