Er rief sie an:
„Mammeli … Esunla … dlein, so dlein!“
Die Mutter sah lachend hinauf und winkte.
„Frästeli, min Büebli!“
Theophrast beschloß, die Mutter bei aller Zierlichkeit zu ertappen. Kopfunter rollte er ihr über die Treppe in die Arme. Allein trotz aller Geschicklichkeit hatte er sein Ziel nicht ereilen können, die Mutter war wieder groß geworden.
Sie schalt ihn, tastete ihn ab. Er aber strebte zu Boden, streckte sich so hoch er konnte und sah vorwurfsvoll zu ihr hinauf, die ihn genarrt hatte. Die Mutter kauerte nieder und hielt nicht ein, vor der Treppe zu warnen. Theophrast schüttelte nur traurig den Kopf und sagte enttäuscht:
„Esunla g’oß.“
Eis ahnte nicht, was sein Herz bedrängte, und das Kind vergaß über einem Neiglein Buttermilch die sonderbare Kunst der Großen, bald klein, bald aber übermächtig, liebeerweckend und wieder abstoßend zu sein, je nachdem man sie durch das Astloch vom Laubengang aus betrachtete oder ihnen allzu nahe kam. Nur eines fühlte er, daß seine Mutter und alle Hausgenossen, die er nach und nach bei ihrer wunderlichen Verstellungskunst erwischte, nicht furchtbar wurden, wenn sie aus den anmutigen Verhältnissen noch so gewaltig in Höhe und Breite wuchsen. Dies war der erste Umweg, auf welchem Theophrast zu den Seinen gelangte.
Durch das andere Astloch sah er nur selten die Menschen. Über die Schweigwies zogen stetige Rinder und die nur wenig lebhafteren Schafe. Zunächst glaubte er, daß sie deshalb so langsam vorwärts kämen, weil sie mit dem Maule weiterkrochen. Doch auch die Waldhöhen, die Kuppe des Etzelforstes lagen gleichmütig und still hinter dem Wiesenrand. Die Bäume mit dem zackigen, gefiederten, runden Laub standen geduldig zu beiden Seiten der Straße und längs der Sihlschlucht, sie rückten niemals von ihrem Platze, wiegten zuweilen ihre Kronen und schickten einander hurtigflatternde Vögel zu, wenn einer dem anderen etwas zu sagen hatte. Die Vögel waren die Stimmen der Bäume, das wußte Theophrast. Es gab auch lautlose Vögel, die nicht von Baum zu Baum schwangen. Die zogen an manchen Tagen, weiß und vielgestalt, über den blauen Mantel hin, der weit über allen Höhen hing. Ihre Schwärme konnten so dicht werden, daß der blaue Mantel ganz verdeckt wurde. Dann mochten sie einander hart bedrängen und weinten viele Tränen. Die Großen traten naß von den Tränen ins Haus, stampften ungeduldig auf den Flursteinen, zeichneten mit den Füßen dunkle Flecke auf den Boden und hingen die Mäntel zum Trocknen über das Ofenreck.
Theophrast sah durch das Astloch in die Welt der Bäume, Höhen, Wolken, wenn er sich am Reiche der Großen sattgesehen hatte, aber auch wenn ihn die Großen nie und nimmer verstehen wollten, mochte er gleich sein ganzes Herz hingebungsvoll ausschütten. Er spähte und hoffte geduldig, daß einmal irgendein Baum den flatternd-bunten Boten zu ihm schicken und zu ihm sprechen werde, denn er meinte, die leise bewegten Kronen müßten ihn verstehen, weil sie nicht mit hastigen Stimmen auf ihn eindrangen, wenn sein Herz voll war und nach Befreiung schlug.
Er saß auf der Schwelle des Laubenganges und spielte mit einem bunten Tüchlein, dem er aus der Betttruhe geholfen hatte, weil es herauskriechen wollte: es hatte die rote Spitze durch den Deckelspalt gestreckt, wie man die Zunge aus dem Mund streckt, war aber stecken geblieben. Man konnte das Knie in das Tüchlein wickeln, wie neulich der Vater einer schreienden Frau das Knie verbunden hatte. Theophrast versuchte des Vaters Kunststück unermüdlich von neuem, es glückte ihm nicht ganz, das Tuch tat nicht weh, er brauchte nicht zu schreien. Schon wollte er es wegwerfen, da flatterte ein Stieglitz über die Brüstung der Laube und schwang sich auf den Eschenast, der unter das Dach hereinhing. Dem Theophrast verging der Atem beinahe; er preßte das Tüchlein in den Schoß und lauschte. Der Stieglitz kletterte den Ast entlang, er pickte da und dort. Dann setzte er sich zurecht und schmetterte seinen Finkensang, daß einem vor Freude das Herz zittern konnte. Theophrast lauschte und wartete auf die Botschaft. Aber er hatte noch nicht am heißen Drachenblute der Mißgunst und des Neides geleckt, er verstand die Sprache der Natur noch nicht. Vielleicht sollte er näher schleichen. Er stand auf, und im Nu war der Stieglitz davon, schneller als es sein ungeschultes Aug erfassen konnte.
„Vogeli, Pip-Vogeli“, lockte er zärtlich, um dem kleinen Boten Mut zu machen, und neigte sich höflich gegen den leeren Ast, der noch leise wippte. Er suchte lange, er horchte geduldig, rief und begriff nicht, wie der Stieglitz fort sein könne, ohne seine Botschaft bestellt zu haben. Dann blitzte ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er auch ein Vöglein senden müsse. Er hatte schon einmal ein Stück Holz auf die Laubenbrüstung gelegt und in die Luft hinausgestoßen; so tat er jetzt mit dem bunten Tüchlein. Lief schnell ans Astloch, zu sehen, wie sein Bote über die Wiese hin auf den Nußbaum flattern werde. Doch er sah ihn nicht, er hörte auch nichts mehr. Indem er lauschte und spähte, wurde ihm grenzenlos bang nach dem verschwundenen Vöglein.
Und wieder sprachen die Großen das letzte plumpe Wort. Die vielbeschäftigte Mutter mußte des Seidentüchleins wegen über die steile Stiege zur Truhe. Ein Glück noch, daß sie es überhaupt gefunden hatte, eh eines Pilgers Blick darauf gefallen war. Theophrast jubelte, als er das Tüchlein in der Hand der Mutter sah. Sein Vöglein kam zurück! Aber die Mutter sprach ernst auf ihn ein, deutete in das Reich der Großen hinunter und hob drohend den Finger.
Theophrast beschwichtigte sie:
„Vogeli fortflogn … Vogeli han!“
Er hielt sich an den Rock der Mutter, erhaschte auf den Fußspitzen das Tüchlein und zog mit aller Kraft daran. Die Mutter gab es nicht frei, sie wehrte die bittenden Hände ab, schloß das gerettete Tüchlein in die Truhe, als gerade der Vater kam.
Der fand den Kleinen in hellem Zorn und Tränen. Das Kind wußte, daß sein Vöglein nicht in der Truhe bleiben wolle, es war in der Hand der Mutter zu ihm zurückgeflogen. Mit seinen Fäusten schlug Theophrast auf den geschnitzten Deckel und schrie aus Leibeskräften:
„Vogeli fortflogn … Vogeli han …!“
„Was tuet ihm so schwer, Elsula?“
„Min siden Fazenetli wollet er uf die Straß schmeißn!“
Sie huschte eilends hinaus, denn die Mittagszeit rief sie zur Mutter.
Theophrast schlug den neidischen Deckel der Truhe und schrie:
„Vogeli, min Vogeli han!“
Wilhelm Bombast zog ihn fort. Er trug ihn auf den Laubengang und versuchte das blonde Haar zu streicheln. Theophrast warf sich zurück und schrie unbändig.
„Büebli, still! Wir wollend ein ander Vögeli ruofen. Lueg, dort kummts gflogen!“
Theophrast hielt einen Augenblick an, er wollte dem Finger des Vaters folgen. Ein Bauer trieb sein blökendes Kalb über die Schweigwies nieder. Theophrast sah und wußte nichts mehr von dem Vögelein. Aber in seiner Brust steckte noch ein heißes Schluchzen, das brach sich Bahn; der ganze Körper bebte.
Und solch erschütternde Bitternis darf den Großen nicht geschenkt bleiben. Er weinte von neuem, doch nur mehr, weil er so tief hatte schluchzen müssen. Herr Wilhelm ahnte, daß seinem Söhnlein die Brücke in ein lichtes Sehnsuchtsland abgebrannt sei. Er versuchte aufs neue den heulenden Kleinen zu streicheln. Da Theophrast nur mehr seines Schmerzes wegen greinte, litt er die sanfte Hand und kam darüber zum Frieden.
„Hast weiter greifen wölln, dann din Ärmlein reicht“, flüsterte der Vater und drückte das nasse Kindergesicht an seine Wange. „Oh, der bösen, stachelichten Zäun, daran eim das Herz muß wundreißen! Sei still, kleiner Mann, ein glattes Herz taugt nit. Hinter den Narben liegt all unser Menschheit.“
Dem Theophrast tat die Stimme seines Vaters wohl. Er war rasch erquickt und packte eine Seidenquaste, die von dem Hemdsaum seines Vaters hing. Er schwenkte sie fröhlich und rief:
„Bimme, bamme, Muh-Kuh, bimme, bamme!“
Auch den Kühen baumelte es vom Halse, nur brauchte man weiter nichts zu sagen, weil es von selber läutete.
An den Bretterspalt des Seitengeländers wagte