„Ich halte Henrys übertriebene Vorsicht eher für einen Fehler“, meinte Robert und nahm sich einen weiteren Hühnerschenkel vom Brett. „Man muss auch Verantwortung abgeben können, selbst auf die Gefahr hin, mal einen Rückschlag einzustecken. Es gibt einige, die über das mangelnde Vertrauen des Königs gekränkt sind. Nimm doch nur seinen Sohn! Der Prinz hat eine Menge Titel, aber keine Macht. Henry hat seinen Erben von den Regierungsbelangen vollkommen ausgeschlossen. Du siehst ja, wohin es geführt hat. Jetzt steht ihm deswegen ein Aufstand bevor.“
„Tja, man hat es nicht leicht mit seinen Eltern. Ich verstehe mich auch nicht sonderlich mit meinem Vater. Wir haben in so ziemlich Allem unterschiedliche Ansichten.“ Duncan hob seinen Becher und grinste. „Auf die Väter“, sprach er einen Toast aus und Robert stimmte lachend bei, auch wenn sein Vater anscheinend eine rühmliche Ausnahme war, denn sie hatten ein recht gutes Verhältnis zueinander.
Gestärkt verließen die Ritter später die Gaststube und vertraten sich in der Stadt noch etwas die Beine. Nach dem langen Ritt tat ihnen ein wenig Bewegung gut. Inzwischen waren dunkle Wolken über London aufgezogen, die den fast vollen Mond verdeckten und es war stockfinster zwischen den Häusern. Als es dann auch noch zu nieseln anfing, zogen sich die beiden wieder in die Festung zurück.
Am Morgen schlug den Rittern strömender Regen entgegen und ihre Umhänge waren schon nass, ehe sie die Stadt durch das Osttor verlassen hatten. Der schwarze Himmel ließ die Hoffnung auf eine Wetterbesserung gar nicht erst aufkommen, also schlugen sie ihre Kapuzen hoch und fügten sich in ihr Schicksal. Der römischen Via Ermine folgend umgingen sie ein Sumpfgebiet und ritten fröstelnd durch die kahlen Wälder nach Norden.
Mittlerweile schüttete es wie aus Kübeln und Pferde und Reiter trieften schon nach kurzer Zeit. Als es dunkel wurde, übernachteten sie irgendwo am Wege in einem namenlosen Gasthaus und machten sich dann mit immer noch unangenehm nasser Kleidung zur letzten Etappe auf. Heute Abend wollten sie die Burg von Roberts Vater in Grantham erreichen. Der Himmel war zwar ein wenig heller geworden, aber es regnete noch immer leicht und die beiden freuten sich auf trockene Kleidung und ein warmes Essen.
Am Nachmittag hatte es endlich aufgehört zu regnen. Nebelschwaden zogen durch den dunstigen Wald und die kahlen Äste der alten Eichen tropften noch vor Nässe, als die beiden Ritter im Schritt gemächlich einen breiten, schlammigen Waldweg hochritten. Pfützen spritzen unter den Hufen ihrer Pferde auf, die mit gesenkten Köpfen müde dahintrotteten. Die grauen Umhänge der Ritter waren dunkel vom Regen und die durchnässten Männer saßen zusammengesunken und frierend in den Sätteln.
Plötzlich warf Duncans Rappe den Kopf hoch und spielte lauschend mit den Ohren. Die Ritter wurden aufmerksam, verhielten ihre Pferde und horchten ebenfalls. Ja, jetzt hörten auch sie ein dumpfes Trommeln. Da kamen offenbar mehrere Reiter in schnellem Tempo hinter ihnen den Weg hoch, noch unsichtbar hinter einer Biegung.
Die Zeiten waren unsicher und es war besser Vorsicht walten zu lassen, wenn man im Wald unerwartet auf eine Gruppe von Fremden traf. Trotz der durch König Henry verbesserten Gerichtsbarkeit und dem Einsatz von Sheriffs, die energisch gegen Strauchdiebe vorgingen, gab es noch immer Räuberbanden und Wegelagerer in den Wäldern. Also suchten die beiden vorsichtshalber erst einmal Deckung zwischen den Bäumen seitlich des Weges. Von dort aus konnten sie ungehindert den Pfad beobachten, ohne gleich selbst gesehen zu werden. Im Schutz der Bäume schlugen sie ihre vom Regen schweren und hinderlichen Umhänge zurück, legten wachsam die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter und warten.
Der Hufschlag näherte sich und schließlich kam ein Reiter in Sicht. Eine junge Frau preschte in halsbrecherischem Galopp über den glitschigen Boden um die Wegbiegung heran. Die Ritter atmeten auf. Diese Lady mit ihrem eleganten Reitkleid und dem hellen Umhang, der im Reitwind hinter ihr wehte, war sicher kein Strauchdieb. Das war nicht die Kleidung der einfachen Leute und auch ihr wertvolles Pferd gehörte sicher keinem Bauern. Ganz offensichtlich war die Reiterin ein Mitglied der höheren Gesellschaft.
Mit einigem Abstand folgten ihr vier mit Schwertern und kurzen Bögen bewaffnete Männer, augenscheinlich ihr Gefolge. Im Vergleich zu der Frau machten sie jedoch einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Während die beiden Ritter sich noch fragten, was die Gruppe wohl zu diesem gefährlichen Tempo veranlasste, hob plötzlich einer der nachfolgenden Männer seinen Bogen, zog einen Pfeil aus seinem Köcher und zielte aus der Biegung heraus auf das Pferd der voranreitenden Frau.
„Das ist gar nicht ihre Eskorte, das sind Wegelagerer! Sie verfolgen die Lady!“
Impulsiv wie immer überlegte Duncan nicht lange und trieb sofort sein Pferd an. Nach Schwert und Schild greifend, preschte er hinaus auf den Weg und hielt auf die Männer zu. Robert warf erst noch einen wachsamen Blick auf die Wegbiegung, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden, aber es kamen keine weiteren Reiter. Dann zog er ebenfalls sein Schwert und lenkte seinen Braunen hinter Duncan her. Es war auch für ihn selbstverständlich, einem bedrängten Menschen zu helfen, aber Leichtsinn nutzte niemandem.
Inzwischen hatte der Bandit seinen Pfeil abgeschossen, doch bei diesem Tempo war es kein einfacher Schuss und er hatte die Reiterin verfehlt. Der Mann fluchte lauthals und versuchte es sofort erneut. Diesmal traf er das Pferd. Allerdings nicht richtig, das Pferd der Lady konnte noch weitergaloppieren, wurde aber deutlich langsamer. Jetzt holten die Verfolger schnell auf und der Schütze konnte leichter zielen. Ein weiterer Treffer und das Tier brach nach einem letzten krampfhaften Sprung zusammen. Die Reiterin stürzte zusammen mit ihrem Pferd und wurde über den Kopf des Tieres hinweg auf den Weg geschleudert, aber es gelang ihr, halbwegs weich abzurollen. Der feuchte Waldboden milderte ihren Sturz zusätzlich ab und sie kam ein wenig schwankend gleich wieder auf die Füße.
In diesem Augenblick hatten die Ritter die Lady erreicht. Duncan parierte sein Pferd neben ihr, während Robert einige Meter weiter ritt und vor den beiden anhielt, um ihnen Deckung vor den herannahenden Banditen zu geben. Die junge Frau, die ihre Aufmerksamkeit auf die Verfolger gerichtet hatte, sah die Ritter nicht kommen und wich erschrocken vor den plötzlich von hinten auftauchenden Männern zurück.
„Immer mit der Ruhe, Mylady, vor uns braucht Ihr keine Angst zu haben“, beruhigte Duncan sie sofort. „Braucht Ihr Hilfe?“
Misstrauisch musterte sie das nur teilweise sichtbare Wappen seines Waffenrockes unter dem halb zurückgeschlagenen Umhang und nickte dann zögernd. Natürlich brauchte sie Hilfe, aber die Ritter waren nur zu zweit. Was konnten sie schon groß ausrichten? Sie wollte die hilfsbereiten Männer nicht in den Tod treiben.
Duncan hatte keine solche Bedenken. Er vertraute auf seine und Roberts Kampfkraft.
„Wir kümmern uns darum. Bleibt hinter uns in Deckung!“ Bevor die junge Frau etwas erwidern und ihn aufhalten konnte, trieb er sein Pferd weiter und schloss zu seinem Freund auf.
Die vier Verfolger hatten angehalten, als ihre schon sicher geglaubte Beute so unerwartet Unterstützung bekam. Doch in nur zwei Rittern sahen sie keine ernsthafte Gefahr, deshalb kamen sie langsamer näher, die Bögen schussbereit.
„Reitet eures Weges, Ritter!“, rief der Wortführer drohend herüber und zog sein Schwert. “Ihr mischt Euch besser nicht in unsere Angelegenheiten ein!“
Die anderen grinsten breit. Zu viert fühlten sie sich sicher.
„Die Lady steht jetzt unter unserem Schutz!“ Roberts Stimme klang hart. „Wer seid Ihr und warum verfolgt Ihr diese Frau?“
„Das geht niemanden etwas an. Gebt die Frau heraus, sonst bekommt Ihr eine Menge Probleme!“
Die Ritter wechselten einen Blick und hoben ihre Schwerter. „Das Risiko gehen wir ein.“
Der Mann startete einen letzten Versuch. Wenn er seine Beute ohne Kampf bekommen konnte, war ihm das natürlich lieber.
„Warum wollt ihr Euer Leben vergeuden, Ritter? Wir werden Euch töten und bekommen die Lady danach trotzdem!“, prahlte er großmäulig. Er hielt sich und seine Strauchdiebe anscheinend für unbesiegbar.