De Lucy, ein schon älterer Mann mit hellwachen Augen, begrüßte die ihm bekannten Ritter freundlich und nahm die lederne Mappe in Empfang. Er warf einen schnellen Blick auf das Siegel des Königs, zog die Briefe heraus und überflog sie kurz.
„So, des Königs Erbe wird aufmüpfig. Das war ja früher oder später zu erwarten. Was gibt es sonst für Neuigkeiten aus Frankreich?“, wollte er dann wissen. Henrys Unstimmigkeiten mit seinem Sohn waren dem stets gut informierten Beamten längst über schnelle Boten zugetragen worden.
„Aus Frankreich gibt es nichts, was Ihr nicht längst wisst“, gab Robert zurück. „Aber wisst Ihr auch, dass offenbar jemand hier in England eine Söldnertruppe aufstellt?“
De Lucy sah ihn ungläubig an. „Hier? Aber hier stehen doch keine Gefechte an, also wieso sollte jemand eine Privatarmee brauchen? Seid Ihr sicher?“
Die Ritter erzählten ihm von ihrer Begegnung auf dem Segler.
„Longune, hmm!“, machte de Lucy besorgt. „Ihr konntet nicht erfahren, ob er die Männer angeheuert hat? Bedauerlich. Das hätte ich doch gerne gewusst. Nun gut, ich werde meine Informanten darauf ansetzen. Und was Euren Auftrag betrifft, bis jetzt gibt es nichts Neues. Seit der Nachricht des Herzogs über den Überfall ist es in Grantham ruhig geblieben. Vielleicht waren es ja nur Banditen, aber Ihr solltet trotzdem vorsichtig sein. Man kann nie wissen! So, tut mir leid, meine Herren, aber ich muss mich schon wieder verabschieden, da wartet noch viel Arbeit auf mich, bevor ich für heute Schluss machen kann. Jedenfalls wünsche ich Euch viel Glück.“
Die beiden verabschiedeten sich und verließen, hungrig und durstig nach dem langen Ritt die Burg. Sie waren spät in London eingetroffen und das abendliche Mahl der Burgbewohner war schon vorüber, also suchten in den verwinkelten Gassen von London nach einer Wirtsstube. Sie betraten das nächstbeste Schankhaus, in dem auch Essen serviert wurde, setzten sie sich müde zwischen einige Bürger der Stadt an einen groben Holztisch und bestellten frisches Bier und gebratenes Geflügel.
Robert griff nach dem tönernen Bierkrug, den der Wirt sofort gebracht hatte. Auf das Essen mussten sie noch etwas warten. „Der König kann wirklich von Glück sagen, einen Mann wie Richard de Lucy zu haben. Einen fähigeren und loyaleren Mann hätte er für den Posten des obersten Justiziars kaum finden können.“
„Nach allem, was man hört, hat Henry überhaupt eine gute Hand in der Auswahl treuer Leute“, bestätigte Duncan, goss sich ebenfalls Bier in seinen Becher und nahm einen tiefen Schluck.
„Wenn man von Thomas Becket einmal absieht, hast du recht.“
„Becket? Wieso? Als Kanzler des Reiches und Henrys rechte Hand war er ihm doch immer treu ergeben. Es war nicht seine Schuld, dass man ihm zusätzlich das Amt als Erzbischof von Canterbury aufgedrängt hat.“
Der Angelsachse Thomas Becket war ein enger Freund des Königs gewesen und hatte ihm jahrelang als Kanzler tatsächlich sehr ergeben gedient. Dann jedoch machte König Henry den Fehler, Becket, der eine kirchliche Ausbildung hatte, zum Erzbischof zu ernennen. Das brachte den aufrechten Mann in einen Gewissenskonflikt, denn er nahm seine neue Aufgabe ebenso ernst wie bisher sein Kanzleramt. Dummerweise war der König hinsichtlich der Zuständigkeit der kirchlichen Gerichtsbarkeit geteilter Meinung mit den Vertretern der Kirche und Becket konnte beim besten Willen nicht beiden Seiten dienen.
„Becket hätte die Ernennung ablehnen müssen.“
Duncan schnaubte. „Das hatte er doch versucht. Henry hat ihn damals lange genug drängen müssen. Außerdem, ernsthaft, wie willst du denn einen Wunsch des Königs ablehnen!“
Die Kirche hatte für Kirchenangehörige eigene Gerichtshöfe, die nach eigenen Gesetzen richteten und eigene Strafen verhängten. Aber nach Henrys Meinung hatte nur er als der König die oberste Gerichtsbarkeit inne und somit unterstand ihm logischerweise auch die Kirche. Es ging hier ums Prinzip, er wollte sich vorbehalten, auch Kirchenangehörige jederzeit durch königliche Gerichte aburteilen zu können. Außerdem misstraute er den in der kirchlichen Rechtsprechung gerne verwendeten Gottesurteilen. Da mussten Angeklagte bei der Wahrheitsfindung für Nichtigkeiten ihr Leben lassen, während als höchste Strafe für Mord oder ähnlich schwere Vergehen dagegen nur die Exkommunikation verhängt wurde. Für einen Gläubigen mochte das eine harte Strafe sein, für König Henry jedoch nicht.
„Nein, ich kann den Mann schon verstehen“, fuhr Duncan fort. „Da gab es keinen Mittelweg. Jede Partei pochte auf ihre angestammten Rechte. Becket musste sich wohl oder übel entscheiden, entweder für den König oder für die Kirche. Er wählte eben die Kirche.“
Als Erzbischof von Canterbury war Thomas Becket in England der oberste Vertreter der Kirche gewesen und damit einer der mächtigsten Männer des Landes. Für ihn als Kirchenmann stand die Kirche über allem Weltlichen, schließlich waren die Geistlichen die Vertreter Gottes. Und somit konnte er unmöglich zulassen, dass sich irgendein Mensch, und sei es auch ein König, über die Macht der Kirche, beziehungsweise über die Macht Gottes stellen wollte.
„Na schön, du hast nicht ganz unrecht, Becket musste eine Wahl treffen“, gab Robert zu. „Aber seine Entscheidung hat niemandem geholfen. Der endlose Streit danach hat einige Opfer gefordert und auch ihn letztendlich ins Grab gebracht. Er hätte besser nachgeben sollen.“
Nach jahrelangen Konfrontationen und der Aufstellung für beide Seiten geltender, gesetzlicher Richtlinien in den Konstitutionen von Clarendon, die später von der Kirche doch wieder abgelehnt wurden, endete der Streit zu guter Letzt mit der Ermordung des Erzbischofs in seiner eigenen Kathedrale in Canterbury. Ausgeführt von vier Rittern des Königs, aber nachweislich ohne Henrys Wissen und gegen seinen Willen. Immerhin zählte er den unbeugsamen Mann trotz aller Meinungsverschiedenheiten zu seinen Freunden. Dennoch hielten viele den König für den heimlichen Auftraggeber dieser Schandtat, denn der Tod seines hartnäckigsten Gegners kam dem König schließlich nicht ganz ungelegen.
„Becket hätte einlenken sollen? Warum? Genauso gut kannst du sagen, Henry hätte nachgeben müssen. Das ist doch eine prinzipielle Kompetenzfrage: Wer hat das Sagen, das weltliche Oberhaupt oder das Kirchliche? Gott ist der oberste Richter, klar, nur sind seine Vertreter hier unten halt doch bloß Menschen und damit nicht klüger oder gerechter als ein König oder Kaiser oder wer auch immer.“
„Schon gut, über diese Frage werden sich die Geister wohl ewig streiten. Wir zwei werden auch keine Lösung finden. Aber einen Erzbischof wegen dieser Streitigkeiten zu ermorden ist sicher nicht der richtige Weg, da sind wir uns doch wohl einig!“ Eine Schankmagd brachte jetzt das bestellte Fleisch an ihren Tisch und einen Korb mit dunklem Brot.
„Natürlich! Ich will auf keinen Fall einen Mord gutheißen!“, beteuerte Duncan zwischen zwei Bissen. „Und ich gehöre auch nicht zu denen, die Henry für den Auftraggeber halten. Er hatte sicher nichts damit zu tun. Becket war sein Freund, trotz allem. Diese Ritter hatten Henrys Wut auf den unbeugsamen Erzbischof einfach missverstanden.“
„Ja, das denke ich auch. Henry hat damals ehrlich um ihn getrauert, du hast es ja miterlebt. Es war richtig von Papst Alexander, den Spekulationen ein Ende zu setzten und Henry offiziell freizusprechen, auch wenn er es vielleicht nicht ganz freiwillig getan hat.“
Robert spielte auf ein offenes Geheimnis an. Henry war im letzten Jahr von Papst Alexander persönlich von aller Schuld an Beckets Tod losgesprochen worden, aber erst, nachdem er ein ganz klein wenig politischen Druck ausgeübt hatte. Die umstrittenen Richtlinien von Clarendon waren kurz danach bis zur beiderseitigen Zustimmung abgeändert worden. Seitdem hatte Henry die Unterstützung der mächtigen und reichen Kirche wieder völlig auf seiner Seite.
„Die üble Geschichte hat den König noch vorsichtiger werden lassen. Dabei könnte er sich mit gutem Gewissen durchaus auf seine Leute verlassen. Becket ist eine Ausnahme,