Während Xenophon und Aristophanes vor allem durch ihre jeweilige Haltung Sokrates gegenüber als Quelle problematisch erscheinen, ergibt sich im Fall der nächsten beiden Autoren ein ganz anderes Problem: Der Sokrates-Schüler Platon sowie dessen Schüler Aristoteles sind als Philosophen selbst dermaßen ambitioniert, dass die Gefahr besteht, dass sie Sokrates durch die Brille ihres eigenen Denkens wahrnehmen bzw. darstellen.
Das gilt für Platon, der Sokrates bereits im Alter von zwölf Jahren vorgestellt und erst mit Zwanzig sein Schüler wird, natürlich nicht von Anfang an. Wie wir im Rahmen des Platon-Kapitels aber ausführlich sehen werden, muss in vielen Fällen zwischen dem ‚platonischen’ Sokrates, der im Werk Platons auftaucht, und dem ‚historischen’ Sokrates, der uns auch unabhängig von Platon bekannt ist, unterschieden werden. Dies umso mehr, als sich in Platons Schriften die mit Abstand ausführlichste Schilderung der Philosophie Sokrates´ findet – dieser taucht in fast allen Platonischen Dialogen sogar als wichtigster Teilnehmer auf. Dazu kommt, dass Platon seinem Lehrer ebenfalls tief verbunden ist, bezeichnenderweise schreibt auch er eine Apologie, also eine Verteidigungsschrift für Sokrates. Die Diskussion darüber, wie getreu Platon die Sokratischen Ansichten wiedergibt, ist uralt und hält bis heute an. Dabei gibt es für die Authentizitätsvermutung ebenso gute Argumente wie für die Behauptung, Platon habe seine eigenen Ansichten hinter dem Namen seines Lehrers versteckt. Die Kritiker Platons führen etwa an, er habe in seinen Dialogen seine eigene Meinung nie ausdrücklich vertreten, schon aus diesem Grund brauche er seinen Lehrer als Sprachrohr[3]!. Zu den eher philosophischen Argumenten werden wir im nächsten Kapitel kommen. Zu Platons Gunsten wird oft ein Satz genannt, der in seinem Zweiten Brief vorkommt und auf eine – milde gesagt – ungewöhnliche Art und Weise zu der Thematik Stellung nimmt. Dort schreibt Platon also selbst: „Es gibt keine Schrift Platons und wird keine geben; und das, was jetzt dafür gilt, stammt vielmehr von einem Sokrates, der schön und gut geworden ist”[4]!. Die Frage, wie authentisch die Sokratische Position genau in Platons Dialogen dargestellt wird, kann hier natürlich nicht gelöst werden. In der wissenschaftlichen Forschung hat man sich mittlerweile weitgehend auf die Formel geeinigt, dass in der frühen Phase des Schaffens Platons Sokrates´ Perspektive noch sehr originalgetreu wiedergegeben wird, während der mittlere und späte Platon hier schon wesentlich vehementer sein eigenes Denken in seine Dialoge einfließen lässt und wir also in seinen Schriften nicht dem historischen, sondern vielmehr dem ‚platonischen’ Sokrates begegnen. In dieser Einführung werden Sokrates nur die Aspekte seines Denkens zugerechnet, die heute ohne Zweifel als seiner Philosophie entsprechend angesehen werden, in einigen Fällen wird auf Platons Zutaten bei der Darstellung seines Lehrers hingewiesen.
Aristoteles schließlich hat Sokrates nicht mehr persönlich kennengelernt, auch äußert er sich bei Weitem nicht so häufig zu ihm bzw. durch ihn wie Platon. Es ist allerdings davon auszugehen, dass er im Rahmen seines Studiums bei Platon in dessen Athener Akademie ausführlich mit mündlichen und schriftlichen Schilderungen des Sokratischen Denkens in Kontakt gekommen ist. Es muss auch hier berücksichtigt werden, dass dessen Darstellung im Rahmen des Schrifttums von Aristoteles, des Corpus Aristotelicum, möglicherweise eine Färbung erhält, der Sokrates selbst nicht zugestimmt hätte. Das gilt insbesondere für die von Aristoteles begründete strikte Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie. Weil Aristoteles andererseits an Platon wesentlich offener Kritik übt als dieser an Sokrates, wird Aristoteles nicht selten auch zu Rate gezogen, um das von Platon erzeugte Sokratesbild zu korrigieren. Das ist auch hier an einigen Stellen der Fall.
Neben den genannten vier Quellen hat es im Lauf der Jahrtausende unzählige weitere Versuche der Darstellung von Sokrates´ Leben und Philosophieren gegeben. Als einer der prominentesten wäre etwa noch der Historiker Diogenes Laertios (3. Jahrhundert n. Chr.) zu nennen, der um 220 n. Chr. ein ausführliches Werk über Leben und Lehre der Philosophen verfasste, in der Sokrates und seinem Verhältnis zu Platon einiger Platz eingeräumt wird. Über die zeitliche Distanz hinaus kann aber auch dieses Werk nicht mit neuen, unabhängigen Quellen dienen, oft fehlen diese sogar ganz. Auch steht erneut der philosophische Ansatz deutlich im Schatten von Persönlichkeit und Biographie[5]!.
Im Anschluss an diese Schilderung der Quellenlage bleibt zunächst offen, ob die oft zu beobachtende Hervorhebung der praktischen Lebensumstände und der Taten Sokrates´ nur der Schwierigkeit geschuldet sind, an direktere Informationen bezüglich seines philosophischen Ansatzes zu kommen, oder ob sich dahinter mehr verbirgt. An dieser Stelle wäre auch die Frage zu stellen, warum Sokrates kein schriftliches Werk hinterlassen hat, schließlich hätte er als freier Bürger Athens alle Möglichkeiten dazu gehabt und stand als eifriger Leser dem Medium der Schrift offensichtlich auch nicht grundsätzlich negativ gegenüber. Jedenfalls berichtet Platon in seinem Dialog Phaidon und seiner Apologie über Sokrates´ ausführliche Lektüre der Schriften des Naturforschers Anaxagoras (ca. 500-428 v. Chr.), und auch Xenophon zitiert in seinen gerade erwähnten Erinnerungen an Sokrates diesen mit den Worten, er habe „die Schätze der Weisen aus vergangener Zeit, die diese uns in ihren Schriften hinterlassen haben”[6], gerne und mit Gewinn studiert. Nur für seine eigenen Erkenntnisse kam ihm eine solche Art der Vermittlung offensichtlich nie in den Sinn – warum nicht?
Als wir soeben Platon und Aristoteles im Vorgriff dafür kritisiert haben, ihre eigenen philosophischen Vorstellungen in ihre Schilderung von Sokrates einfließen zu lassen, war das durchaus als allgemeiner Hinweis zu verstehen: Man sollte sowohl bei der Darstellung als auch bei der Lektüre einer Philosophie zumindest immer versuchen, sich das eigene Vorverständnis dieser Philosophie klarzumachen und nötigenfalls auch zurückzustellen[7]!. Ist das Bewusstsein dafür erst einmal geweckt, liegt der nächste Schritt praktisch fest: Denn nicht erst die Darstellung, sondern bereits die Fragen, die wir an einen Philosophen stellen, sind von unseren eigenen Vorstellungen geprägt, ob diese uns nun bewusst sind oder nicht. In diesem Sinne können wir uns nun selbst den Spiegel dahingehend vorhalten, ob unserer Frage nach dem fehlenden Sokratischen Schrifttum möglicherweise eine Vorannahme zugrunde liegt, die von Sokrates schlicht nicht geteilt wurde. Hat, mit anderen Worten, die Tatsache, dass uns keine Schriften von Sokrates vorliegen, womöglich nicht nur praktische Ursachen, sondern steht mit den Inhalten seiner Lehre im Zusammenhang, ist also Teil seiner Philosophie? Wir werden später auf diese Frage zurückkommen.
Wer wie wir sofort nach den Schriften eines Philosophen fragt, geht offensichtlich recht unbedarft davon aus, dass sich die Inhalte von dessen Lehre durch den Akt des Lesens aneignen lassen, warum sollten wir uns schließlich sonst der Mühe der Lektüre unterziehen? Das aber setzt voraus, dass sich das, was der Philosoph mitteilen möchte, im Medium der Schrift fassen lässt – und genau darin liegt der springende Punkt. Wie der folgende kurze Ausschnitt aus Xenophons Erinnerungen zeigt, haben bereits seine Zeitgenossen Sokrates auf dieses Thema angesprochen. Diesem geht es aber offenbar um eine ganz andere Art der Vermittlung seiner Philosophie, wie er Hippias bei der Diskussion um das Thema Gerechtigkeit klarmacht.
Hippias: Es ist genug, dass du die anderen stets zum besten hältst, sie ausfragst und in die Enge treibst, deinerseits aber niemandem Rede stehst und nicht deine Meinung preisgeben willst. Sokrates: Wie, oh Hippias, hast du nicht bemerkt, dass ich nie aufhöre, an den Tag zu legen, was ich für Recht halte? Hippias: Und wie ist dein Reden darüber? Sokrates: Nicht durch Worte, sondern durch die Tat lege ich es an den Tag. – Und ist die Tat nicht ein besserer Beweis als das Wort?[8]
Was hier zunächst deutlich wird, ist, dass sich Sokrates nicht etwa nur über die Schrift kritisch äußert, sondern sogar über die Sprache an sich. Während sich ein gewisser Vorbehalt gegenüber dem leicht Dahingesagten bis heute in vielen Sprachen zeigt (‚Worte sind nur Schall und Rauch’, ‚Talk is cheap’ etc.), hat die hier zitierte Stelle einen tieferen Hintergrund, bei dem es zwischen Platon und seinem Lehrer ohne Zweifel keine inhaltlichen Differenzen gab. Denn beide vereinte eine tiefe Abneigung gegen eine zu ihrer Zeit sehr einflussreiche Schule – die Sophistik. Obwohl sich auch die Sophisten selbst in grundlegenden Fragen oft uneins waren[9]!, verband sie doch die gemeinsame Ablehnung der Vorstellung der Wahrheit. Der Mensch komme bei der Beobachtung und im Umgang mit der Welt immer nur zu relativen Erkenntnissen,