»Aber was war Stonehenge wirklich?«, fragte Dana die Gruppe.
»War es eine Tempelanlage für kultische Rituale?«, antworte jemand.
»Oder eine Begräbnisstätte?«, erwiderte ein anderer.
»Ich habe gelesen, dass es ein Observatorium für astronomische Berechnungen sei«, meinte eine Frau mit walisischem Akzent.
»Ja es gibt viele Meinungen dazu. Aber einen schlüssigen Beweis gibt es bis heute nicht«, erklärte Dana der Gruppe.
»Was würde ich alles dafür geben, wenn ich wüsste, wofür das alles hier steht«, dachte Dana.
»Schon nur die Entstehungsgeschichte ist unklar«, fuhr sie mit den Erklärungen weiter.
»Neuste Forschungsergebnisse datieren den Beginn der Anlage auf etwa 8000 vor Christus. Aber wir wissen es nicht genau, und wir werden es vermutlich auch nie herausfinden.«
Wenn Dana gewusst hätte, dass sie im Verlaufe des nächsten Jahres dabei sein würde, als genau dieses Rätsel gelöst wurde, hätte sie heute auf ganz andere Dinge geachtet. Dana gab nun den Touristen genügend Zeit, sich beim Monument umzusehen. Die tiefliegende Herbstsonne schien in die Anlage, und mit ein wenig Fantasie konnte man erkennen, dass sie mit ihrem Licht die Steine in gespenstische Figuren und Formen verwandelte.
»Da!«, rief eine Teilnehmerin.
»Was ist denn das?«, sagte eine andere.
»Das ist doch unmöglich!«, meldete sich eine weitere Person und zeigte mit dem Finger fast senkrecht in den Himmel. Alle blickten nach oben.
»Es sieht aus wie eine schwarze Scheibe!«, rief eine Person laut.
»Sie sieht so aus wie eine zweite Sonne, nur schwarz«, tönte es aus der Gruppe. Einige wollten das Phänomen mit ihren Smartphones fotografieren, aber die schwarze Scheibe verschwand und alles schien wieder völlig normal zu sein.
»Was um Himmels Willen war das?«, wollte eine Teilnehmerin wissen.
»Es gibt sicher eine einfache Erklärung für diese seltene Erscheinung«, erklärte Dana der Gruppe.
»Ich denke, es handelt sich um eine Art Luftspiegelung, da die richtige Sonne schon sehr tief lag. Also so eine Art Fata Morgana«, erklärte sie in einem gelassenen Ton, so als würde das jeden Monat vorkommen. Dabei versuchte sie so normal wie nur möglich zu wirken. In Tat und Wahrheit hatte sie keine Ahnung, was sie gesehen hatte. Die Gruppe nahm dies zur Kenntnis und machte sich keine weiteren Gedanken. Dana erklärte weitere Eigenheiten des Stonehenge Monuments und beendete nach der eingeplanten Zeit die Führung.
»Schon eigenartig, was wir heute am Himmel gesehen haben«, meinte einer der Touristen.
»Ja, da stimme ich Ihnen zu, aber so ist es an solchen Orten oftmals, erwiderte Dana, die versuchte, eine aufkommende Panikattacke zu unterdrücken.
»An so geschichtsträchtigen Orten sehen Menschen plötzlich Dinge, die man sonst nicht sieht. Wir nennen das manchmal mehr spasseshalber das Stonehenge Syndrom«, fuhr sie fort.
Die Antwort schien ihn nicht wirklich zu überzeugen. Dennoch massen er und die anderen Touristen dem Ereignis keine weitere Bedeutung zu. Nachdem Dana noch die eine oder andere Frage beantwortet hatte, verabschiedete sie sich von der Gruppe. Nachdenklich sah Dana dem Sonnenuntergang zu und fragte sich insgeheim, was da wohl vorgefallen war.
»Stonehenge Syndrom hin oder her. Hier muss irgendwas ausserordentlich Eigenartiges passiert sein. Fata Morgana gibt es hier keine«, fasste sie ihre Gedanken zusammen. Von Neugier getrieben, wollte sie Kontakt mit Edward Bakon, einem Journalisten der »Sun« aufnehmen, den sie von der Universität her kannte. Er konnte nicht wirklich gut schreiben, zumindest empfand sie damals seine Liebesbriefe als nicht besonders originell. Aber was ihn auszeichnete, war sein ausgesprochen feines Gespür für gute Stories. Das wussten auch die Redakteure der Zeitung und liessen ihn oftmals in mehr als fragwürdigen Geschichten wühlen. Sie wussten, dass er einen Riecher für sowas hatte. Wenn Edward an einer Sache dran war, dann kam die Geschichte meistens gross heraus.
»Er wird sicher eine Idee haben, wie mit dieser Information umzugehen ist«, sagte sie mehr zu sich selber. Sie suchte die Nummer auf ihrem Smartphone und zögerte noch einen Moment mit dem Anruf. Als sie vor zwei Jahren definitiv Schluss mit ihm gemacht hatte, war das eine unschöne Angelegenheit gewesen.
»Soll ich ihn wirklich anrufen?«, überlegte Dana.
Aber ihre Neugier war wie immer in solchen Situationen grösser. Sie dachte nicht mehr lange nach, betätigte das Anruffeld und wählte seine Nummer.
»Edward Bakon«, hörte sie ihn mit festem Ton sagen.
»Er hat immer noch diese dunkle und geheimnisvolle Stimme«, dachte sie.
»Hallo Edward, ich bin es, Dana Robinson«, sprach sie in ihr Smartphone.
»Dana, wie geht’s dir? Dein Yorkshire Akzent hat sich in keiner Weise verändert«, antwortete er ihr.
»Mir geht es soweit gut, aber heute habe ich etwas Eigenartiges beobachtet. Wie geht es dir?«
»Soweit gut. Immer viel um die Ohren. Du kennst mich ja, ich bin ein Jäger und Sucher. Im Moment bin ich gerade in der National Gallery in London. Bin am Recherchieren. Arbeitest du immer noch in Stonehenge?«, fragte Edward.
»Ja, als wissenschaftliche Leiterin. Heute hatte ich eine Führung. Dann ist es passiert«, stammelte sie ein wenig.
»Was ist passiert?«
»Du wirst es nicht glauben. Ich habe eine schwarze Scheibe am Himmel gesehen.«
»Nur Du?«, erwiderte Edward, der ein echtes Interesse an der Sache zu haben schien, jedenfalls verriet ihn sein Tonfall, den Dana in- und auswendig kannte.
»Nein, auch andere Teilnehmer der Gruppe.«
»Hast du eine Idee, was es sein könnte. Ein Ufo?«, wollte Edward wissen. Aber in seiner Stimme lag kein Sarkasmus.
»Ich hoffte, dass du eine Ahnung davon hast. Gab es irgendwelche Meldungen? Eine Luftspiegelung, einen Wetterballon oder sonst was in der der Art?«
»Nein, mir ist nichts bekannt.«
»Wo bist du jetzt?«, wollte er wissen.
»In Stonehenge.«
»Lebst du immer noch in derselben Wohnung in Salisbury, in der Nähe der Kathedrale?«, wollte er wissen.
»Ja«, sagte sie und die Frage löste etwas Unbehagen in ihr aus.
»Hör mir gut zu, Dana. Ich frage mal bei dem einen oder andern Spezialisten nach. Ich melde mich in einer halben Stunde. Kann ich dich dann telefonisch erreichen?
«Ja, das kannst du, ich werde dann zu Hause sein. Ich brauche auch knapp eine halbe Stunde nach Salisbury«, sagte Dana.
Sie war plötzlich nicht mehr so überzeugt, dass es eine gute Idee war, Edward zu kontaktieren. Er legte sich schon immer ins Zeug, wenn er Lunte gerochen hatte. Ihr ging das schon in der Vergangenheit immer zu schnell. Aber es war ja auch unglaublich, was sie heute gesehen hatte. Sie stieg in ihren alten Vauxhall, den sie liebevoll Oliver in Anlehnung an Oliver Cromwell nannte und fuhr gemächlich Richtung Salisbury nach Hause. Kaum hatte sie sich es auf ihrem Sofa gemütlich gemacht und eine Tasse Tee eingeschenkt, da klingelte das Smartphone. Das Display zeigte Edward Bakon an. Sie holte tief Luft und berührte die Annahmetaste.
»Dana hier«, sagte sie.
»Bist du schon zu Hause?«
»Ja. Hast du Neuigkeiten?«
»Und ob!«, sagte Edward.
»Und?«,