»Das müssen fast 1000 Barrakudas sein. Und wieso in aller Welt bilden sie einen nahezu perfekten Kreis und schauen alle in die Mitte? Und überhaupt, Barrakudas sind Einzelgänger«, dachte John.
Als er noch zur Schule ging, erklärte ihm sein Vater, dass Barrakudas eigentlich nicht gefährlich waren. Jedoch reagierten sie aggressiv auf glitzernde und blinkende Gegenstände. Barrakudas seien mythische Wesen, die schon vor mehr als 40 Millionen Jahre in den Ozeanen gelebt hatten. Entsprechende Fossilien bewiesen das. John wusste, dass es das Lieblingstier seines Vaters war. Ob er deshalb einen 1972 »Plymouth Barracuda« fuhr, wollte er ihm nie verraten.
»Du musst mit ihnen gedanklich in Kontakt treten und kommunizieren, dann lassen sie dich in Ruhe«, sagte sein Vater oftmals zu ihm. Er erinnerte sich gut an diesen Satz. Als er vor Jahren auf einem Tauchgang unerwartet hinter einem Riff Auge in Auge mit einem fast zwei Meter langen Barrakuda war, kamen ihm die Worte seines Vaters in den Sinn. Er versuchte damals, gedanklich mit dem Barrakuda zu kommunizieren und teilte ihm mit, dass er ihn respektiere und sich zurückziehen werde. Vielleicht bildete er sich es nur ein, aber er hatte das Gefühl, als ob ihm der Barrakuda signalisierte, dass alles in Ordnung war und er neben ihm vorbei tauchen konnte. Dies tat er damals, obwohl er eigentlich Angst hatte, dass er von diesem Raubfisch gebissen würde. Die grossen und messerscharfen Zähne konnten schon lebensbedrohliche Verletzungen verursachen. Aber es gab damals keine Probleme.
»Aber was geschieht hier unten?«, dachte er und war wieder in der Gegenwart angekommen. Nun sträubten sich ihm selbst im Neoprenanzug seine Nackenhaare und er wusste, dass sie kaum mehr Zeit hatten, wenn sie hier lebend raus wollten. Er spürte, dass das ruhige, glasklare Meerwasser sich leicht zu verändern schien. Das ganze Wasser im Great Blue Hole begann sich langsam im Kreis zu drehen. Auch die unter ihnen liegenden Barrakudas drehten sich genau im selben Tempo. Er hatte ein Gespür für solche Dinge. Schnell tauchte er zur Gruppe und wies ihnen den Weg in die Höhle. Sie mussten sich beeilen.
Als sie alle etwa drei Meter in der Höhle und damit ausserhalb des kreisrunden Great Blue Holes waren, bildeten sich kleine Blasen, die schnell aufstiegen. Er wies die Gruppe an, ganz nah beieinander zu bleiben. Die Blasen innerhalb des Great Blue Holes wurden immer zahlreicher und es schein, als dass das Meer eine leicht rötliche Färbung bekam.
»Zum Glück sieht es so aus, dass wir in der Höhle geschützt sind, dachte John.
»Hoffentlich bekommt niemand eine Panikattacke.«
Er wagte selber noch einen kurzen Blick in die Tiefe. Aber er sah kaum mehr etwas, da das Meer richtiggehend zu sprudeln begann und unendlich viele Blasen aufstiegen, so dass kaum mehr Sicht vorhanden war. Das Meer war jetzt dunkelbraun rötlich gefärbt.
»Das sieht ja aus, wie wenn eine riesige Cola-Flasche geschüttelt und dann geöffnet wird«, überlegte John.
Dann ging alles ganz schnell. Das Meer schien förmlich zu vibrieren und ein sehr schmerzhafter hoher Ton liess ihn und die übrigen Taucher fast in Ohnmacht fallen, als das ganze Spektakel wie auf ein Kommando aufhörte. Keine sprudelnden Blasen waren mehr zu sehen und das Meer hatte wieder die gewohnte Färbung und beruhigte sich augenblicklich. Sofort zeigte er der Gruppe an, dass er nach den vier Amerikanern schauen wollte. Er wies sie an, noch fünf Minuten zu warten. Sie hatten genügend Atemluft, es sollte gut reichen.
»Das Wasser ist wieder klar. Aber wo sind die Amerikaner?«, fragte sich John.
»Wo sind sie nur geblieben?«
Dass es keine Barrakudas mehr hatte, erstaunte ihn noch mehr. Es schien, als ob alles verschwunden wäre. Was war hier bloss geschehen? Er musste nun an die Gruppe denken und diese sicher an die Oberfläche führen. Obwohl alle ziemlich eingeschüchtert waren, konnten sie mit den notwendigen Dekompressions-Stopps die Oberfläche des Great Blue Holes unversehrt erreichen. Von den vier Amerikanern fehlte jede Spur, und weder sie noch Teile ihrer Tauchausrüstung wurden jemals gefunden. In den Medien von Belize gab es nur eine sehr kurze Berichterstattung. Hauptsächlich wurde die Arroganz der amerikanischen Taucher thematisiert. In den USA hingegen wurde dieser tragische Unfall als Verkettung ungewöhnlicher und unglücklicher Umstände auch in grösseren Medienbeiträgen erwähnt. Es handelte sich um einen schweren Tauchunfall, der weiter untersucht werden müsste, meinten die amerikanischen Medienunternehmen. Dass beim Unfall Barrakudas im Spiel waren, gefiel den Redakteuren, auch dass das Meer plötzlich zu sprudeln begann, wurde erwähnt.
Kapitel 3: Stonehenge
Südengland, am gleichen Tag
Dana, wissenschaftliche Leiterin des Stonehenge Monuments wurde stark von der tiefliegenden Abendsonne geblendet. Das mochte sie ganz und gar nicht, denn die Touristen, welche das weltberühmte Steinmonument mit der kreisförmigen Anordnung bestaunen wollten, mussten in ihrem Blickfeld gut sichtbar sein. Das war so ein Spleen von ihr. Sie fühlte sich nur gut, wenn sie alles überblicken konnte. Mit ihrer etwas zu gross geratenen Sonnenbrille und der offen getragenen roten karierten Bluse sah sie ein wenig zerzaust aus. Vielleicht lag das auch an ihren langen roten Haaren, die im starken Westwind herumwirbelten. Ihr Aussehen hatte etwas Skurriles, ja fast Hexenhaftes an sich. Auch mit knapp fünfzig Jahren sah sie immer noch ein wenig verträumt aus, obwohl ihre Gesichtszüge eher etwas Strenges an sich hatten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nach wie vor auf der Suche ihres Märchenprinzen war, der leider immer noch nicht in ihr Leben getreten war. Nicht, dass sie keine Beziehungen gehabt hätte, aber es war nie der Richtige darunter.
Dana war in einem Arbeiterviertel in Sheffield aufgewachsen, was auch noch heute gut an ihrem Yorkshire Dialekt zu erkennen war, den sie nie abgelegt hatte. Schon als kleines Kind hatte sie stundenlang ihrem Grossvater zuhören können, der von alten Legenden, untergegangenen Zivilisationen und Heldengeschichten erzählte. Er erklärte ihr einmal, dass südlich von Sheffield 1955 ein 150000 Jahre alter Faustkeil gefunden wurde. Das war irgendwie ein Schlüsselerlebnis für sie. Dass sie sich in der Zukunft an die im Jahre 2004 entdeckte »Church Cave« mit Wandmalereien, die auch »Sixtinische Kapelle der Eiszeit« genannt wird, erinnern und damit den Gang der Geschichte beeinflussen würde, hätte sie nie gedacht. Ihre Eltern konnten dem Ganzen nichts Gutes abgewinnen. Die Tradition in der Familie Robinson war eng verbunden mit der Geschichte des Stahls und der Kohle. Fast alle Familienangehörigen arbeiteten seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Stahlindustrie. Dies machte die Menschen stolz, hart und unnachgiebig. Arbeit stand an erster Stelle. Da hatte verträumte Romantik keinen Platz. Ihr Vater konnte bis zu seinem Tod den Untergang und den Zusammenbruch der Stahlindustrie in den 1970er Jahren nie verkraften, und das Zusammenleben mit ihm wurde damals nicht leichter.
»Dabei wurde in Sheffield doch der rostfreie Stahl erfunden«, sagte ihr Vater oftmals, wenn er ungläubig zurück an seine Entlassung denken musste. Wie viele Fabrikarbeiter war auch ihr Vater mürrisch und wollte nach getaner Arbeitsschicht oftmals nur seine Ruhe. Als sie damals verkündete, dass sie Anthropologin werden möchte, trug das nicht zu einer besseren Stimmung in ihrer Familie bei. Ihr Vater verwechselte es mit Astrologie. Nur die Mutter wusste Bescheid und unterstütze sie, weil sie erkannte, dass Dana anders war als ihre zwei Brüder und die ältere Schwester. Sie wusste, dass Dana es zu etwas bringen würde. Dana dachte oft an ihre Mutter, die viel zu früh an Krebs gestorben war.
»Habe ich es wirklich zu etwas gebracht?«, fragte sie sich auch bei der heutigen Führung. Gut, sie hatte ihr Studium in Cambridge erfolgreich als Anthropologin abgeschlossen. Die Wissenschaft vom Menschen und ganz allgemein die Geschichte der Menschheit faszinierten sie schon immer. Ihr Spezialgebiet war die Evolutionstheorie, worin sie auch promovierte. Leider war es schwierig, in diesem Umfeld eine Stelle zu finden. Ein befreundeter Professor aus Cambridge, Dr. Sinclair, verhalf ihr zu diesem Job. Sie war zwar intelligent, aber ihre innere Antriebsfeder war immer die Neugier. Sie konnte sich stundenlang mit neuen Ideen und Einfällen auseinandersetzen.
»Über den Zweck des Steinmonuments von Stonehenge«, begann Dana ihre Ausführungen, »gibt es verschiedene, meistens widersprüchliche Theorien.« Dana musste den Touristen nicht erklären, dass das vor ihnen liegende Monument eines der geheimnisvollsten der Welt war. Schon über das Alter stritt man sich. Stonehenge bestand aus einer Grabanlage