»Die einen Tropfsteine wachsen von oben nach unten, die andern gerade umgekehrt. Jacques aus Frankreich meldete sich und erklärte, dass die Stalaktiten, von oben nach unten wachsen.
»Stalaktiten habe ich mir so gemerkt, dass Stalak-titen also von t wie tomber abgeleitet ist. Im Französischen heisst das »fallen« und Stalak-miten also m wie monter, was wiederum steigen heisst«, erklärte er.
»Interessante Herleitung«, sagte John.
»Stalaktiten könne er sich anders merken«, entgegnete Neville vorlaut.
»Ich denke dabei an die Titten einer Frau, die zeigen ja auch nach einer gewissen Zeit nach unten«, stellte er lachend fest, was vor allem bei den Frauen nicht gut ankam. John dachte, dass er es da mit zwei amerikanischen Angebern zu tun hatte. Er musste sowohl Roy als auch Neville gut im Auge behalten.
»Wie dem auch sei. Die grössten Stalaktiten haben eine Höhe von fast acht und einen Durchmesser von fast zwei Metern.«
»Wie alt sind die etwa?«, wollte Susan wissen.
»Alt genug, um uns zu langweilen«, fuhr Roy dazwischen.
»Hör doch langsam auf mit deinen Bemerkungen, du verdirbst uns ja die ganze Freude«, fuhr ihn Susan an.
»Das kann ja noch heiter werden. Vielleicht sollte ich wirklich mal eine entsprechende Scheidungsstatistik nach Tauchgängen im Internet suchen«, dachte John.
»Eine generelle Daumenregel besagt, dass ein Stalaktit in 10000 Jahren etwa einen Meter wächst«, erklärte John, als sei Roy gar nicht ausfällig geworden.
»Wow, dann sind die grössten ja fast 80000 Jahre alt!«, rief Susan begeistert.
»Ja das ist so, deshalb sagte ich auch, dass wir eine Reise in die Geschichte machen«, erklärte John abschliessend.
»Na und, das ist ja schon lange her, wen interessiert das schon«, maulte Roy, als müsse er die ausfälligen Bemerkungen von Neville noch übertrumpfen.
Zum Glück hatte das Tauchschiff das Ziel in der Mitte des Great Blue Hole erreicht.
»Wir nehmen uns heute folgenden Tauchgang vor«, begann John seine Ausführungen.
»Wir tauchen zuerst auf 15 Meter«, sagte er.
»Können wir nicht direkt auf 30 Meter«, unterbrach ihn Roy. John hätte eine Wette abgeschlossen, dass Roy ihn unterbrechen würde.
»Nein, wir werden alle gemeinsam auf 15 Meter gehen«, hielt John fest.
»Dort bleiben wir kurz, kontrollieren ob alles in Ordnung ist, und tauchen danach auf 25 Meter ab. Dort verbleiben wir für einen letzten Kurzcheck. Wir bewegen uns an der Südwand und bleiben zusammen«, erklärte John.
»Wann gelangen wir ins Höhlensystem«, wollte Rudi wissen.
»Wenn die Situation vor Ort es erlaubt, sollten wir nach weiteren fünf Minuten zum Eingang gelangen. Er liegt bei 37 Metern.«
»Wie lange bleiben wir im Höhlensystem?«, wollte das norwegische Paar wissen.
»Geplant wären 25 Minuten, aber ich werde zu gegebener Zeit darüber befinden. Anschliessend ist freies Tauchen angesagt, jedoch nicht tiefer als 50 Meter. Danach kehren wir wieder Step by Step an die Oberfläche und zum Schiff zurück«, erklärte John.
»Gibt es weitere Fragen?«
»Können wir auch tiefer tauchen?«, wollte Roy wissen.
»Bei diesem Tauchgang nicht«, war seine kurze und etwas unterkühlt klingende Antwort.
Roy verzog mürrisch das Gesicht.
»Wir werden ja sehen«, dachte er insgeheim. »50 Meter war ja nichts für ihn. Die anderen Paare und auch der Deutsche und der Franzose schienen soweit in Ordnung zu sein«, dachte John.
Aber bei den beiden Amerikanern war grosse Vorsicht geboten. Insgeheim fragte er sich, wie oft Roy wohl schon geschieden war. Nachdem nun auch die Bleigurten befestigt waren und jeder sein eigenes Ritual mit dem Anziehen der Flossen und der Taucherbrille vor dem Start durchgeführt hatte, watschelten alle zum Absprungpunkt. Nachdem sich auch John fertig angezogen hatte, warf er wie vor jedem schwierigen Tauchgang einen Blick auf seinen Talisman, sein Special Warfare Insignia, eines der seltensten und begehrtesten Qualifikationsabzeichen der US-Streitkräfte, welches er im Rahmen seiner Einsätze verliehen bekommen hatte. Er nahm es kurz in die Hand, drückte es und legte es zurück in eine kleine Schachtel in seinem Spind. Es bestand aus einem goldenen Adler mit einem Marineanker, Dreizack und einer Pistole in seinen Klauen. In den meisten Einheiten wurde es auch als »Budweiser« bezeichnet.
»Nach dem Tauchgang würde er ein Bier trinken«, dachte er.
Nun waren alle bereit. Ein letzter grosser Ausfallschritt und alle Taucher waren im Wasser. Nachdem alle signalisiert hatten, dass sie startklar waren, gingen sie unter der Leitung von John als erstes auf 15 Meter Tiefe. Es hatte wenige Fische, jedoch fiel John auf, dass sie sehr unruhig herumschwammen. Später würde er sich erinnern und erklären, dass ihm dort zum ersten Mal aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte. Nach einem kurzen Stopp prüfte er bei jedem Taucher, ob alles in Ordnung war. Dabei wurde nicht mit dem sonst üblichen Daumenhoch Zeichen signalisiert, dass alles OK war, sondern eine Hand bildete mit dem Daumen und dem Zeigefinger einen Kreis, während die restlichen Finger gestreckt blieben. Bei allen schien alles in Ordnung zu sein, und er signalisierte mit dem Daumen nach unten, dass sie auf 25 Meter Tauchtiefe gelangen wollten. Auch hier wiederholte John seine Kontrolle und sämtliche Rückmeldungen waren positiv. Nach weiteren drei Minuten sanken sie zum Eingang des Höhlensystems ab. Das Meerwasser war auch noch in dieser Tiefe sehr klar und von wunderschöner Färbung. Schwebend glitten sie in den Eingang, als ihnen harmlose Trompeten- und Papageienfische entgegen schwammen. Die Taucher erfreuten sich an dem Anblick, nur John gefiel die Art, wie sie schwammen, nicht.
»Was stimmt heute nicht?« dachte er.
Er zeigte ihnen die Stalaktiten und die wenigen Stalagmiten, die gut sichtbar waren.
»Schon unheimlich, wenn man bedenkt, dass einige von ihnen fast 80000 Jahre alt waren«, philosophierte John.
Als sie nun nach 20 Minuten wieder zurück an den Rand des Great Blue Holes gelangten, sahen sie über sich ein Dutzend karibische Riffhaie schwimmen. John hob die Hand und gab der Gruppe zu verstehen, dass sie anhalten sollten und signalisierte, dass alles OK sei. Er wusste, dass Riffhaie keine Gefahr für sie darstellten. Nun war es an der Zeit, dass die Teilnehmer in dieser Tiefe in Begleitung ihrer Bodys selber nach ihren Vorlieben tauchen durften.
»Verflucht«, dachte John. »Was ist da unten?«
Etwa zwanzig Metern unter ihnen sah er, dass sich unzählige Barrakudas tummelten, ja es sah fast so aus, als versammelten sie sich.
»Genau auf sowas habe ich gewartet«, dachte Roy.
Als könnte Neville seine Gedanken lesen, signalisierten sie sich gegenseitig, dass sie das näher anschauen wollten. Natürlich schleppten sie ihre Frauen mit. Bevor John Einhalt gebieten konnte, tauchten sie nach unten weg. »Idioten«, dachte er.
Aber er konnte die restlichen Gruppenmitglieder nicht alleine lassen, also beschloss er, dass die Sicherheit der Gruppe Vorrang hatte. Indem er seine offene Hand hin und her schwenkte, signalisierte er der Gruppe, dass sie auf dieser Tiefe bleiben sollten, während er nachschauen wollte, wo die vier geblieben waren. Als er nach unten schaute, konnte er seinen Augen nicht trauen. Was er sah, überstieg alles, was er schon jemals gesehen hatte. Olaf gesellte sich neben ihn und als er sah, was unter ihnen vorging, wollte er sofort auftauchen. Aber John konnte ihn noch stoppen. Denn auftauchen aus dieser Tiefe könnte tödlich enden. Allen Tauchern signalisierte er, dass sie sich beruhigen sollten und zeigte ihnen auf, dass sie wieder an den Rand des Höhlensystems gelangen sollten.
Mittlerweile hatten alle gesehen, was unten Unglaubliches passierte. Die Amerikaner sah man nur