»Weiter«, sagte Lavoisier.
»Die Moschee des Sultan Hasan in Kairo leuchtete konzentrisch wie ein silberner Strahlenkranz.«
»Für wie lange?«, wollte er wissen.
»Für etwa fünf Minuten«, antwortete sie.
Für einen Augenblick wanderte Lavoisiers Blick von seinem imaginären Punkt an der Decke auf seinen aus Eichenholz bestehenden Bürotisch, zu einer Sandsteinkopie eines Gargoyles, eines jener magischen, geflügelten Wesen, die tagsüber Steinstatuen sind, bei Sonnenuntergang jedoch zum Leben erwachen und bei Sonnenaufgang wieder zu Stein werden. Auch stand eine aus Alabaster gefertigte Horusfigur, die leicht gelblich zu schimmern schien, daneben. Jener altägyptische Hauptgott, der meistens mit einem Falkenkopf dargestellt wurde. Alice wusste, dass alles, was mit Ägypten zu tun hatte, ihn immer betroffen machte. Er liess sich allerdings nichts anmerken. Jedoch entging ihr dies nicht.
»Sonst noch was?«, fragte er.
»Ja, es gab noch eine kreisrunde, fast hundert Meter breite, senkrecht abfallende Eintiefung in Sibirien. Sieht aus wie ein riesiger Zylinder im Boden. Weiter brennt es plötzlich wie aus dem Nichts aus einem kreisrunden, neuentstandenen Loch an einer Bergflanke in Peru«, sagte sie.
»Du hast noch was für mich, so wie du da sitzt«, bemerkte Lavoisier.
»Genau, über dem Yellowstone Nationalpark Park schwebte für kurze Zeit eine perfekte Wolkenkugel. Das ist alles«, beendete sie die Zusammenfassung.
Schnell analysierte Lavoisier die Ereignisse. Er stellte noch einige präzisierende Fragen und nickte von Zeit zu Zeit bestätigend mit dem Kopf.
Dr. Marcel Lavoisier war ein pragmatischer Realist, ein Macher und mit 39 Jahren zurzeit das jüngste Mitglied der Académie des Sciences, der Akademie der Wissenschaften. Seine Erfolgsquote war nahezu hundert Prozent und ihm wurde deshalb nachgesagt, er habe die Begabung, Dinge vorherzusehen. Ältere Kollegen schrieben dies mehr der Kombinationsfähigkeit, dem vernetzten Denken und dem unbändigen Willen zu, seine Ziele zu erreichen. Sein Leistungsausweis konnte sich mehr als sehen lassen. Nach dem Abitur studierte er Philosophie an der Sorbonne. Aus Wissensgier, wie er später meinte. Nach einem Studienaufenthalt in Ägypten, dem Irak und Syrien promovierte er anschliessend in Harvard zum Doktor der Astrophysik. Aus diesem Grund verliehen ihm seine Freunde den Spitznamen Galilei, obwohl er nicht Italiener, sondern Franzose war. Es waren seine überdurchschnittliche Intelligenz und seine einzigartige Fähigkeit, in kürzester Zeit die entscheidenden Problemstellungen zu erkennen, entsprechende Massnahmen einzuleiten und Anweisungen umzusetzen, welche letztlich den Ausschlag zur Beförderung zum Generaldirektor des Institutes für Altertumsforschung vor drei Jahren gaben. Dies war die offizielle Bezeichnung der Institution. In Tat und Wahrheit war das Institut eine dem Geheimdienst und somit direkt dem Innenminister unterstellte Forschungsabteilung, welche unerklärliche Phänomene und Ereignisse sowohl in der Gegenwart, als auch in der Vergangenheit erforschte. Er war unverheiratet und kinderlos, aber man sah ihn des Öfteren in Begleitung von sehr attraktiven Frauen. Aber eine Beziehung im engeren Sinne hatte er nie, wollte er nie. Im Institut ging schon länger das Gerücht um, dass er früher eine komplizierte Beziehung zu jemand aus dem arabischen Raum hatte. Er beherrschte neben verschiedenen anderen Sprachen auch das Arabische, was nicht immer allen gefiel. Die über neunzig Mitarbeitenden wussten, dass es besser war, ihn nicht auf seine Zeit in Ägypten, Irak und Syrien anzusprechen, sofern man keinen Ärger mit ihm haben wollte.
»Wie haben die Medienkonzerne auf die verschiedenen Ereignisse reagiert? Gibt es Stellungnahmen der einzelnen Regierungen? Und was spielt sich in den sozialen Medien ab?«, wollte Lavoisier wissen.
»Wie üblich versuchen die Regierungen, dies alles auf natürliche Phänomene oder Versuche wie Wetterballone zu reduzieren. Die Anhänger von Verschwörungstheorien geben ebenso gewohnt ihre Ansichten der Ursachen bekannt. Also alles wie seit Roswell schon gewohnt«, antwortete Alice.
»Haben die da draussen irgend eine Theorie?«, wollte er wissen.
»Nicht im Geringsten. Die verschiedenen Gruppieren konzentrieren sich auf einzelne Ereignisse. Ein Zusammenhang wird zurzeit nicht vermutet«, antwortete sie.
»Haben wir schon eine Theorie?«, fragte er.
»Noch nicht, aber es ist auffällig, dass überall ein Kreis eine Rolle zu spielen scheint.«
»Gibt es Aussagen über den exakten Zeitpunkt der Ereignisse?«, fuhr Lavoisier fort.
»Das ist genau der springende Punkt«, sagte Alice.
Lavoisier starrte wieder seinen imaginären Punkt an der Decke an, dachte kurz nach und sagte »Lass mich raten! Alles geschah innerhalb von wenigen Minuten überall gleichzeitig auf der Erde?«
Dass Lavoisier mit seiner Frage genau ins Schwarze getroffen hatte, erstaunte sie nicht. Er hatte einfach so eine spezielle Art, an Dinge heranzugehen. Manchmal empfand sie dies als unheimlich, wie wenn er schon im Voraus wüsste, worum es eigentlich ginge.
»Ja, unsere Recherchen haben ergeben, dass alle Ereignisse innerhalb kurzer Zeit geschehen sind«, sagte sie.
»Aber unsere Spezialisten haben keine Ahnung«, was nicht als Frage, sondern mehr als eine Feststellung klang.
»Ja, das ist so, aber wir arbeiten daran.«
»Was hältst du persönlich davon?«, fragte er Alice.
Lavoisier wusste, dass Alice ausserordentliche Fähigkeiten besass, die weit über das normale Management solcher Spezialprojekte hinaus gingen. Sie war für ihn oftmals ein Buch mit sieben Siegeln. Einerseits war sie der Inbegriff von verstandesmässigem Denken und Handeln. Anderseits konnte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, alle Fakten über den Haufen werfen und aus dem Bauch heraus Entscheide fällen. Dabei lag sie nie daneben. Lavoisier mochte das an ihr, obwohl es ihn manchmal verzweifeln liess.
»Ich denke, dass die Ereignisse zusammengehören. Sie sind unnatürlich, und jemand oder etwas steckt dahinter. Aber wer oder was?«
»Gut«, sagte Lavoisier, »das war dein Verstand, der geantwortet hat. Was sagt dir dein Bauchgefühl?«
»Hmm, ich habe irgendwie ein mieses Gefühl. Sollte es tatsächlich einen Zusammenhang geben und jemand dahinterstecken, dann bedeutet das wohl nichts Gutes. Die Dimension, in dem sich alles abspielt, die zeitliche Koordination, das dahintersteckende Muster, das alles gefällt mir ganz und gar nicht. Da geschieht etwas ganz Grosses«, antwortete sie in ihrer offenen und vertrauten Art, die Lavoisier an ihr so schätzte. Oftmals dachte er, was wohl aus ihnen geworden wäre, hätte er auf ihre Avancen anders reagiert. Aber er konnte einfach nicht. Zu nahe lagen die anderen Ereignisse zurück.
»Was sind deine Schlussfolgerungen?«, fragte sie ihn.
»In etwa dieselben wie deine. Es ist wichtig, dass wir das Ganze im Auge behalten. Mögen die Regierungen, die Medien und die Verschwörungstheoretiker sich nur für einzelne Ereignisse interessieren, wir müssen aber alles im Blickfeld behalten«, sagte er.
»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Alice.
»Ich möchte, dass du für mich ein paar Dinge erledigst«, sagte er.
»Ich nehme an, dass es in Tansania und in Belize Augenzeugen gab. Ich möchte mit ihnen sprechen. Ich möchte aber, dass kein Staub aufgewirbelt wird. Zudem möchte ich von unseren internen IT-Spezialisten in Erfahrung bringen, ob es im Vorfeld entsprechende Auffälligkeiten gab. Ich will eine Zugriffsanalyse über den Ngorongoro Krater, das Great Blue Hole und Stonehenge für die letzten drei Monate und zwar in geografischer, religiöser und sprachlicher Aufschlüsselung.«
»Werde ich sofort veranlassen«, erwiderte sie.
»Ich bin für die nächsten zwei Stunden nicht zu sprechen« sagte er.
»Ich weiss«, war die kurze Antwort von Alice.
Sie lächelte