Finn schluchzte. »Ich würde aber so gerne reiten.«
»Ach, Finn.« Seine Mutter fuhr ihm mit einer müden Geste durch die Haare. »Ich würde auch alles Mögliche gern machen. Das geht aber nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Weil nicht alle Wünsche in unserem Leben in Erfüllung gehen. Genau genommen die wenigsten.«
Greta konnte es kaum erwarten, Mareike endlich wiederzusehen. Dummerweise waren die Springers erst in Urlaub gefahren, als die Bubendeys schon wiederkamen, und so hatten sie sich tatsächlich beinah die ganzen Sommerferien über nicht gesehen.
Gretas Familie wohnte mitten in der Altstadt, in einem Backsteinhaus mit einem winzigen Vorgarten, in dem sich Spalierrosen an der Hauswand emporrankten, und einem hinteren Garten, in dem zwei Apfelbäume standen und in einem umzäunten Beet Dahlien in allen Farben blühten. In einer Ecke neben dem Schuppen gab es eine Schaukel und daneben eine verwaiste Sandkiste, die allmählich von Himbeeren überwuchert wurde. Selbst die achtjährige Julia hatte mittlerweile keine Lust mehr, im Sand zu buddeln.
Gretas Zimmer lag im ersten Stock unter einer Dachschräge. Aus einem Dachfenster blickte sie hinaus in den Garten. Wenn sie auf ihrem Bett lag, sah sie nur den Himmel, und als sie kleiner gewesen war, hatte sie viele Stunden damit zugebracht, Figuren in den Wolken zu entdecken. Jetzt saß sie an ihrem Schreibtisch und klebte Urlaubsfotos in ein Fotoalbum – Erinnerungen an die dänische Dünenlandschaft und ihr reetgedecktes Ferienhaus, in dem sie die letzten Wochen verbracht hatten. Julia hockte auf Gretas Bett, im Kassettenrekorder lief ein Hörspiel von Hanni und Nanni.
Greta klappte das Fotoalbum zu.
»Gehen wir jetzt baden?«, fragte Julia und hüpfte vom Bett.
»Nein. Ich fahre zu Mareike, die ist seit gestern Abend wieder zu Hause.«
Julias pausbäckiges Gesicht verzog sich vor Enttäuschung, und einen Moment lang tat es Greta leid, dass sie ihre Schwester alleine ließ. Früher hatten sie viel mehr zusammen gespielt. Doch seit Greta auf dem Gymnasium war, fand sie Julias Spiele immer häufiger langweilig und kindisch.
»Aber du hast es mir versprochen«, maulte Julia und fasste nach ihren Haaren, die sie in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie schlang sich eine Strähne um die Hand, als wolle sie sich daran festhalten.
Greta stand auf. »Ich habe gesagt, ich komme vielleicht mit, falls Mareike heute noch keine Zeit hat.« Sie ging die Treppe hinunter und zog ihre Sandalen an. Julia folgte ihr. »Was ist mit deinen Freundinnen? Wollen die alle nicht baden?«
»Doch. Aber ich wollte lieber mit dir gehen.« Julia schob ihre Unterlippe vor.
»Morgen vielleicht, ja?«
»Vielleicht, vielleicht, vielleicht«, murmelte Julia geknickt und verschwand im hinteren Teil des Hauses.
Greta verabschiedete sich von ihrer Mutter und machte sich auf den Weg zu Mareike. Die Familie Springer lebte etwas außerhalb, umgeben von Wiesen und Feldern. Greta fuhr aus dem Stadtzentrum hinaus und bog bald in einen Seitenweg, der sie an Gärten vorbei ins Grüne führte. Sie vermied es, mit ihrem Fahrrad auf der verkehrsreichen Landstraße zu fahren, und wählte immer einen Weg durch ein Wäldchen und an ein paar Rinder- und Pferdeweiden entlang. Das war zwar ein Umweg, aber Greta liebte die Strecke.
Hier musste sie nicht auf den Verkehr achten, sondern konnte vor sich hinträumen – zum Beispiel von einem eigenen Pferd, das auf einer dieser Weiden stand. Außerdem malte sie sich aus, was sie Mareike alles erzählen wollte. Sie freute sich schon darauf, mit ihr hinter den Johannisbeerbüschen zu sitzen und Urlaubserlebnisse auszutauschen.
Auf dem Feldweg zwischen zwei Rinderweiden kam ihr auf einmal Finn Janssen auf seinem Fahrrad entgegen. Er hatte diesen finsteren Blick drauf, den er immer aufsetzte, wenn er sie sah. Und nun wandte er sein Gesicht auch noch ab und trat kräftig in die Pedale, um wortlos an Greta vorbeizusausen. Sie sah trotzdem, dass er ein blaues Auge hatte.
Oh weh, dachte sie bestürzt, Finn hat sich wieder mal geprügelt. Offenbar war er aus dem Alter immer noch nicht raus. Sie konnte es kaum erwarten, Mareike davon zu berichten.
»Stell dir vor«, sagte sie aufgeregt, als sie endlich hinter den Johannisbeerbüschen auf dem Rasen saßen. »Der kloppt sich immer noch wie so ein Erstklässler. Aber offenbar hat er diesmal den Kürzeren gezogen, so vermöbelt wie er aussah.«
Mareike fielen die braunen, langen Haare ins Gesicht, als sie sich vorbeugte. »Hör mal, was ich dir jetzt sage, ist absolut geheim, okay?«
Greta nickte begeistert. Sie liebte Geheimnisse.
»Versprich mir, dass du niemandem erzählst, dass ich es dir erzählt habe, okay?«
Wieder nickte Greta und hob die Hand. »Großes Ehrenwort.«
Mareike rückte ein Stückchen näher an sie heran. »Finn hat sich nicht geprügelt. Er wurde verprügelt. Von seinem Vater.«
»Was?« Greta starrte Mareike entgeistert an. Ole Janssen hatte seinen Sohn so zugerichtet? Unmöglich.
»Psst!« Mareike sah sich hastig um. »Ich habe das gestern zufällig aufgeschnappt. Meine Mutter hat das wohl von einer Nachbarin gehört. Und ich darf es offiziell gar nicht wissen. Meine Eltern haben sofort aufgehört zu reden, als sie mich bemerkt haben.«
Gretas Freude über das Wiedersehen mit Mareike löste sich schlagartig in Luft auf. Finn wurde von seinem Vater grün und blau geschlagen? Das konnte unmöglich wahr sein. Niemand durfte Finn wehtun, den sie seit Jahren heimlich verehrte, schon gar nicht sein eigener Vater. Etwas krampfte sich in Gretas Innerem zusammen, als empfinde sie den körperlichen Schmerz, den man Finn zugefügt hatte, selber. Ihr wurde schwindelig und ganz flau im Magen.
Unwillkürlich berührte sie die feine Narbe unter ihrem Auge, die nach ihrem Unfall damals zurückgeblieben war.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Mareike besorgt.
Greta nickte beklommen.
»Du findest ihn immer noch toll, oder?« Mareikes mitfühlender Blick tat ihr gut. Konnte es eine bessere Freundin geben?
»Ja«, sagte sie leise. »Aber das darf auch niemand wissen. Mein Vater will nicht, dass ich Kontakt zu Finn habe.«
»Ich weiß.« Mareike legte den Arm um Greta. »Trotzdem ist es so gemein, wie er behandelt wird.«
Das war es allerdings. Gemein und einfach nur unerträglich.
»Ich hab was für dich.« Mareike griff in die Taschen ihrer Jeans. »Es kann dich trösten und beschützen.« Sie zog ein winziges Holzpüppchen hervor, das nur aus einem Kopf und einem Bauch bestand und an einer neongrünen Kordel hing.
»Ein Glücksbringer!«, rief Greta begeistert. Sie hatte vor den Ferien schon einige dieser Püppchen bei ihren Klassenkameradinnen in der Schule gesehen – es gab sie in allen Farben und sie baumelten an Federmappen und Schultaschen, an Hosen und Jacken. Nun besaß Greta endlich auch eins.
»Es wird mich ewig beschützen«, sagte sie andächtig und Mareike nickte eifrig.
Auf dem Heimweg dachte Greta unentwegt an Finn. Sie wünschte, sie könnte einfach zu ihm gehen, ihn an der Hand nehmen und mit ihm fortlaufen, an einen sicheren Ort, an dem er nicht geschlagen wurde. An einen Ort, an dem er sie vielleicht wieder küssen würde.
Greta steuerte eine Pferdeweide an, die auf ihrem Weg lag, und auf der gelegentlich ein paar Ponys grasten. Sie sahen nicht so schick aus wie die großen Pferde im Reitverein, in dem Greta seit dem vergangenen Jahr ritt, aber das war ihr egal.
Da standen auch schon zwei am Zaun und reckten ihre Hälse in Richtung eines Jungen, der mit ihnen sprach. Beim Näherkommen erkannte Greta, dass es Finn Janssen war.
Nun liefen sie sich heute bereits zum zweiten Mal über den Weg. Greta wollte schon wortlos weiterfahren,