Mareikes Vater war der Arzt im Ort, Dr. Springer. Greta zog schaudernd die Schultern hoch. Finn prügelte sich auch oft. Erst neulich hatte er wieder mal eine verquollene Lippe gehabt. Hatte ihr Vater also recht, dass der Junge genauso gefährlich war wie der alte Herr Janssen?
Nachdenklich spielte Greta mit ihren blonden Zöpfen, während Mareike weiter Brausepulver futterte. Das wirklich, wirklich Dumme an der Sache mit Finn Janssen war, dass er von allen Jungen, die sie kannte, das süßeste Lächeln hatte.
Geheimnisse
In den Sommerferien ging jeder aus Travenstedt, der es sich leisten konnte, auf Reisen. Doch das waren im Sommer 1982 die Wenigsten. Dr. Springer schloss seine Praxis für drei Wochen und fuhr mit seiner Familie zum Wandern nach Österreich. Die Apothekerfamilie machte Urlaub in Dänemark. Und der Pastor war mit etlichen Gemeindegliedern zu einer Familienfreizeit nach Langeoog aufgebrochen.
Finn Janssen war noch nie verreist. Wie in allen Ferien würde er sich irgendwo draußen herumtreiben. Er hatte drei jüngere Geschwister und entfloh dem Lärm und Chaos zu Hause, wann immer er konnte. Er stromerte stundenlang in der Gegend umher und erkundete die Natur. Travenstedt lag eingebettet in Wiesen und Felder, die von Knicks begrenzt wurden, den typischen norddeutschen Wallhecken. Im Süden ragte der Todesberg auf, davor dehnte sich der See aus, der über ein Flüsschen mit weiteren Seen verbunden war. Im Sommer konnte man hier mit dem Kanu sehr ausgedehnte Touren unternehmen.
Finn war jedoch noch nie Kanu gefahren. Seine Eltern hatten mal ein Schlauchboot gekauft, in dem er mit seinem Bruder Martin an einer der Badestellen am See herumgepaddelt war. Aber nach zwei Sommern hatte das Boot ein Loch und niemand flickte es.
Doch Finn war gern am See. Früher ließ er selbstgebaute Schiffchen aus Holzrinde darauf fahren, heute übte er sich im Steinehüpfen. In diesem Sommer, in dem er elf Jahre alt war, lag sein Rekord bei vier Hüpfern, bevor der flache Stein ins Wasser sank. An den wenigen heißen Sommertagen, die es im Norden gab, ging er mit Martin oder seinen Schulfreunden im See baden. Es gab eine offizielle Badestelle mit einer Liegewiese und einem Kiosk, der auch Kanus verlieh, und einige kleinere Plätze zum Baden, die versteckt zwischen Büschen und Schilfgras lagen und vor allem bei den älteren Jugendlichen sehr beliebt waren. Finn hatte einmal ein halbnacktes Pärchen hinter einem Gebüsch entdeckt. Die beiden waren wütend geworden, als sie ihn bemerkten, und er floh mit hochrotem Kopf. Seitdem mied er diese Stellen.
Gelegentlich begleitete er in den Schulferien auch seinen Vater, der nicht nur Türen, Geländer oder Werkzeuge fertigte, sondern auch als Hufschmied arbeitete. Finn liebte Pferde, daher freute er sich immer, wenn sein Vater ihn mitnahm zu einem der Bauern in der Umgebung. Finn hielt die Pferde fest und sprach beruhigend auf sie ein, wenn sie nervös wurden. Ole Janssen erhitzte die Eisen vor dem Bearbeiten in einem Ofen, und all die fremden Geräusche und der Geruch, wenn das heiße Eisen das Horn des Pferdehufs verbrannte, gefielen nicht jedem Pferd.
Aber Finn besaß die Gabe, auch die ängstlichsten Tiere zu beruhigen. Furchtlos stand er neben riesigen Kaltblutpferden, zog ihren gewaltigen Schädel zu sich herab, murmelte unentwegt freundliche Worte in ihr Ohr und brachte sie so zur Ruhe.
Es hätte alles richtig schön sein können, doch leider war Finns Vater oft jähzornig und brüllte seinen Sohn an, sobald der etwas falsch gemacht hatte. Diese Wutanfälle steigerten sich zu einer bösartigen Raserei, wenn er betrunken war. Und das war Ole Janssen oft.
Er ging nach Feierabend regelmäßig in den Gasthof unten an der Straße und trank dort den einen oder anderen Korn zu viel. Anschließend torkelte er heimwärts, und wer ihm in die Quere kam, konnte schon mal mit Beschimpfungen oder sogar Schlägen rechnen. Und dabei machte Ole Janssen keinen Unterschied, ob es sich um Fremde oder Familienmitglieder handelte.
Darum war Finn, bei aller Begeisterung für die Arbeit eines Hufschmieds, auf der Hut, wann immer sein Vater in der Nähe war.
Bei einem der Bauern standen ein paar Ponys auf der Weide, hauptsächlich für die Kinder der Feriengäste. Als Finns Vater gerade die Hufe eines dicken Shetlandponys raspelte, sagte der Bauer zu Finn: »Die Ponys haben viel zu wenig Bewegung. Hast du nicht Lust, sie zu reiten?«
Finn blickte zögernd zu seinem Vater. Er träumte schon ewig davon, reiten zu lernen, aber die teuren Stunden im Reitverein konnten seine Eltern nicht bezahlen. Doch es war zweifelhaft, ob sein Vater nun einwilligen würde.
»Setz dem Jungen keine Flausen in den Kopf«, brummte Ole Janssen auch prompt. »Der muss erst mal ordentliche Schulnoten nach Hause bringen, da hat er genug zu tun.«
Finns Augen brannten vor Enttäuschung. »Aber mein Zeugnis war doch gut. Und jetzt sind Ferien«, sagte er und vergrub eine Hand in der dichten Mähne des Ponys. Nie war sein Vater zufrieden mit ihm.
»Falls der Junge auch mal als Hufschmied arbeiten soll, kann es nicht schaden, wenn er ein bisschen mehr über Pferde lernt«, unterstützte ihn Bauer Peters und Finn schöpfte neue Hoffnung.
Doch sein Vater schüttelte nur mit finsterem Blick den Kopf.
Finn wusste kaum, wohin mit all seiner Wut und Enttäuschung. Aus lauter Verzweiflung fuhr er zum Todesberg und sauste mit dem Fahrrad den asphaltierten Hang hinunter. Anschließend kämpfte er sich den Berg wieder hoch – er schaffte es mittlerweile bis ganz hinauf, ohne abzusteigen.
Nach dem fünften Aufstieg ließ er sich schwer atmend und erschöpft auf den Baumstumpf sinken, auf dem einmal Greta Bubendey gesessen hatte, blutend und weinend. Drei Jahre war das nun schon her. Er hatte seitdem kaum noch etwas mit Greta zu tun gehabt. Sie schien ihn zu meiden, und wann immer sie Finn zufällig doch mal alleine antraf, tat sie so, als würde sie ihn nicht sehen. Zum Glück waren sie mittlerweile auf verschiedenen Schulen, sodass er diese Schmach nur selten ertragen musste.
Doch Greta ging Finn seit jenem Tag damals nicht mehr aus dem Sinn. Ihre Verletzung hatte sicher scheußlich wehgetan, aber nach dem ersten Schreck war sie sehr tapfer gewesen. Und überhaupt, was für ein mutiges Mädchen, das tatsächlich freihändig den Todesberg hinuntergefahren war. Er konnte es kaum glauben. Einige seiner Freunde wagten das bis heute nicht.
Finn hatte Greta immer für hochnäsig gehalten. Sie trug so schicke Kleidung. Und ihre blonden Haare waren jeden Tag sehr ordentlich frisiert. Kürzlich hatte sie ihre langen Zöpfe abschneiden lassen. Mit dem modischen Pagenschnitt sah sie wunderschön und sehr erwachsen aus. Und war für Finn unerreichbarer denn je.
Er wusste genau, was Greta von ihm hielt, sie hatte es ihm früher oft genug hinterhergebrüllt. Dösbaddel – Dummkopf. Er war eben nur der Sohn eines Schmieds, ärmlich gekleidet und weniger gebildet als diese ganzen Akademikerkinder. Dabei war er in der Schule mittlerweile richtig gut, er war sich sicher, dass er das Zeug hatte, um aufs Gymnasium zu gehen. Doch das stand außer Frage.
»Wozu brauchst du Abitur?«, fragte sein Vater. »Für ehrliche Arbeit benötigt man seine Hände und nicht den Kopf.«
Also wurde er trotz guter Noten auf der Realschule angemeldet. Greta, die natürlich aufs Gymnasium ging, sah er seitdem kaum noch; nur gelegentlich liefen sie sich in der Stadt über den Weg, und dann wechselte Greta jedes Mal die Straßenseite.
Früher wäre ihm das egal gewesen, doch an jenem Tag im Sommer vor drei Jahren war irgendetwas geschehen mit ihm. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, mit Greta Bubendey zu streiten und sie zu necken. Vielmehr kränkte es ihn, wenn sie durch ihn hindurchsah, als sei er Luft. Und er sehnte sich danach, noch einmal ihre weiche Haut zu küssen und dieses süße Lächeln zu sehen, das sie ihm anschließend geschenkt hatte.
Doch nun war Greta ohnehin erst mal fort und machte mit ihrer