Ihre Träume, in denen es um Finn ging, waren sehr ausgedehnt und sehr verboten, besonders, wenn sie sich dahingehend entwickelten, dass Greta Finn ebenfalls küsste. Aber dazu würde es wohl nie kommen. Sie hatte Finn seit jenem Sommertag am See nicht mehr gesehen. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern könnte.
Vollmondzauber
Als sie dreizehn war, begann für Greta mit Beginn des neuen Schuljahrs der Konfirmandenunterricht. Jeden Donnerstagnachmittag unterrichtete Pastor Behrmann eine Gruppe Jugendlicher über den christlichen Glauben und Sinnfragen des Lebens.
Greta mochte Pastor Behrmann. Er war freundlich und lachte viel und probierte in seiner Gemeinde lauter neue Dinge aus. Erst kürzlich hatte er sich einen weißen Talar mit einem bunten, gewebten Schal zugelegt – ein vollkommen ungewohntes Bild in einer evangelischen Kirche, in der traditionellerweise tristes Schwarz vorherrschte. Die Gemeinde war geteilter Meinung über seine neuen Ideen, genauso wie die Familie Bubendey.
»Ich finde die bunten Farben ja recht hübsch«, sagte Gretas Mutter. »Das bringt Leben in die Kirche.«
Ihr Vater hingegen war skeptisch. »Der alte Luther hat sich schon was dabei gedacht, als er den ganzen Firlefanz aus der Kirche verbannte«, pflegte er zu sagen.
Zu Gretas Erstaunen nahm auch Finn am Konfirmandenunterricht teil. Er saß meistens schweigend in der Runde, und es war nicht klar, ob er aufmerksam zuhörte oder mit den Gedanken ganz woanders war. Gelegentlich warf Greta ihm verstohlene Blicke zu. Er sah sehr süß aus mit diesen verstrubbelten Haaren und dem leisen Lächeln, das manchmal über sein Gesicht glitt, wenn er sich flüsternd mit einem Sitznachbarn unterhielt.
Hin und wieder fing er Gretas Blicke auf und hielt sie für einen winzigen Moment gefangen. Dann musste sie sich hastig abwenden, mit rasendem Herzen und geröteten Wangen.
Die Konfirmandenzeit dauerte ein knappes Jahr. Im Frühling 1985 fuhren sie für drei Tage auf eine Konfirmandenfreizeit an die Ostsee. Keiner von ihnen hatte recht Lust auf die Reise, wie das so war bei derartigen Pflichtveranstaltungen. Gretas Trost war, dass Mareike auch mitfuhr und sie sich das Zimmer mit zwei netten Mädchen teilten, was das Ganze halbwegs erträglich machte.
Und außerdem war ja auch Finn dabei. Aber Greta wusste nicht genau, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Was, wenn Finn unentwegt so tat, als sei sie Luft? Das war schrecklich demütigend. Aber schlimmer noch wäre es, wenn er sie ständig so anstarren würde wie in den Konfirmandenstunden. Das verunsicherte sie. Glaubte Finn etwa, sie verpuffe einfach, wenn er sie nur lange genug anglotzte?
Am ersten Abend saßen sie in einem Stuhlkreis in dem recht nüchternen Saal, der ihnen für ihre Zusammenkünfte zur Verfügung stand. Zu Gretas Erstaunen setzte Finn sich auf den freien Platz neben ihr. Er sah sie nicht an, aber sie saßen so dicht beieinander, dass sich fast ihre Schultern berührten.
Greta hörte kaum, was Pastor Behrmann erzählte, so sehr brachte Finns Nähe sie durcheinander. Sie glaubte, jeden seiner Atemzüge zu spüren, und in ihrem Bauch flatterte auf einmal alles.
Pastor Behrmann breitete bunte Karten auf dem Fußboden aus. Er forderte die Jugendlichen auf, sich das Kärtchen zu nehmen, das sie am meisten ansprach. Dann musste jeder den Text vorlesen, der auf seiner Karte stand.
Greta beobachtete, wie Finn mit geschmeidigen Bewegungen durch den Raum schritt und sich zielsicher nach einer Karte bückte. Sie selbst brauchte etwas länger beim Auswählen.
Als er an der Reihe war, sagte Finn mit fester Stimme: »Auf meiner Karte steht Glück.«
Pastor Behrmann nickte beeindruckt.
Dann war Greta dran.
»Freundschaft«, murmelte sie so leise, dass Pastor Behrmann sie aufforderte, es zu wiederholen.
Später hielt der Pastor eine kurze Andacht, die er mit einem Segen abschloss.
»Steht dazu bitte alle auf und fasst Euch an den Händen«, sagte er.
Greta spürte rechts Mareikes schmale Hand, die sich federleicht in ihre schob. Die Freundin grinste breit. Und dann tasteten auch auf der linken Seite Finger nach ihr. Kräftige Finger, die ihre Hand sicher umschlossen, warm und fest.
Greta warf Finn einen scheuen Blick zu und – es war kaum zu glauben! – er sah sie auch an und lächelte.
Hand in Hand standen sie dicht nebeneinander, während Pastor Behrmann die uralten Segensworte sprach. Und als sich danach alle setzten, hielt Finn Janssen Gretas Hand immer noch fest umschlossen, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Am nächsten Tag nahmen alle im Stuhlkreis die Plätze ein, die sie auch am Abend zuvor gehabt hatten – wie das immer so war bei derartigen Veranstaltungen. Obwohl sie kaum ein Wort mit Finn wechselte, genoss Greta seine Anwesenheit. Sie bewunderte heimlich Finns schlanke Figur und sein schönes Gesicht mit den dunklen Augen, die unglaublich lange Wimpern hatten. Er überraschte nicht nur Pastor Behrmann, sondern auch Greta, indem er sich bei allen Übungen, die sie machten, intensiv einbrachte.
Auf die Frage, was für sie das Wichtigste im Leben sei, antwortete er: »Dass ich glücklich bin.«
Und als es um die Frage ging, wie er sich seine Zukunft vorstellte, sagte er: »Ich möchte die Frau, die ich liebe, heiraten. Ich möchte mit ihr in einem eigenen Haus wohnen und Kinder haben. Und ich möchte einen Beruf erlernen, der mich erfüllt und mir Freude macht.«
Greta wusste auf beide Fragen keine rechte Antwort zu geben. »Das Wichtigste im Leben sind meine Familie und meine Freunde«, sagte sie schließlich. »Und für die Zukunft wünsche ich mir Glück und Gesundheit.« Aber irgendwie klang das hohl und nicht halb so überzeugend wie Finns Worte.
Doch sie spürte, wie sich zwischen ihnen eine Wärme ausbreitete, die sie zum Glühen brachte, wann immer sich ihre Körper zufällig berührten.
»Ich glaube, ich bin total verliebt in ihn«, gestand sie Mareike in der Mittagspause, in der sie zu zweit einen Spaziergang am Strand machten. Es war ein milder Frühlingstag, sonnig und windstill. Kinder bauten Sandburgen und ihre Eltern saßen in Strandkörben und sonnten sich.
Mareike kicherte. »Ich glaube, er ist auch in dich verliebt. Er schaut dich so oft an.«
»Wirklich?« Greta konnte es nicht fassen, doch Mareike nickte mit breitem Grinsen.
Abends saßen sie wieder auf ihren vertrauten Plätzen im Stuhlkreis, als Pastor Behrmann eine Andacht hielt. Dicke Altarkerzen verbreiteten eine heimelige Atmosphäre. Zum Abschluss forderte der Pastor die Jugendlichen wie am Tag zuvor auf, während des Segens aufzustehen und sich an den Händen zu halten.
Es fühlte sich schon beinah vertraut an, Finns kräftige, warme Finger zu spüren, und als er zweimal hintereinander zudrückte, ging Greta auf dieses kleine Signal ein und erwiderte es.
Nachdem der Pastor den Segen gesprochen hatte, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme: »Wenn ihr mögt, dürft ihr einander nun in die Arme nehmen und euch gegenseitig sagen: ›Schön, dass du da bist.‹«
Ein verlegenes Kichern setzte ein und die Jugendlichen standen einen Moment steif und ratlos in der Runde. Dann warf sich jedoch ein Mädchen gackernd in die Arme seiner besten Freundin und der Bann war gebrochen.
»Schön, dass du da bist.« Auch Mareike und Greta umarmten einander lachend. Weitere Mädchen kamen hinzu und dann sogar der eine oder andere Junge.
Als Greta sich das nächste