»Keine Ahnung. Wir sagen es ihnen einfach nicht.«
»Gute Idee«, sagte Finn. Doch seine Stimme klang alles andere als begeistert.
Es war ein wundervoller Sommer, vielleicht der schönste ihres Lebens. In jeder freien Minute stahl Greta sich mit Finn davon. Sie radelten gemeinsam zum Todesberg, badeten im See oder saßen stundenlang an der Pferdeweide vom Petershof und erzählten einander alles, was sie bewegte.
Bei schlechtem Wetter verkrochen sie sich gelegentlich in Finns Zimmer. Seine Familie wohnte in einem unscheinbaren Haus am Rande des Ortes. Hinten im Hof befand sich die Schmiede von Ole Janssen, den Greta nie zu Gesicht bekam. Finn achtete immer darauf, dass sie wieder ging, bevor sein Vater ins Haus kam. Allerdings sah sie Ole Janssen gelegentlich im Ort auf der Straße. Er blickte meistens recht finster in die Gegend und sprach nur mit wenigen Leuten.
Annemarie Janssen war es egal, mit wem Finn seine Zeit verbrachte. Sie nickte Greta freundlich zu, während sie den Staubsauger durch das Haus schleppte oder in der Küche stand und kochte. Sie war sicher mal eine sehr schöne Frau gewesen. Finn hatte ihr hübsches Gesicht und die dunklen Augen mit den langen Wimpern geerbt. Doch die Ehe mit einem gewalttätigen Trinker und die Geburt von vier Kindern war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Bitterkeit und Erschöpfung spiegelten sich in ihrem Gesicht wider und ihre Hände sahen rissig und rot aus.
Finn teilte das Zimmer mit seinem jüngeren Bruder Martin, der nicht immer Lust hatte, das Feld für die beiden zu räumen. Mürrisch hockte er auf dem Bett und beobachtete genau, was Greta und Finn taten.
Darum besuchte Greta Finn nur selten.
Aber in den wenigen Stunden saßen sie Arm in Arm auf Finns Bett, hörten Musik und träumten davon, wie es sein würde, wenn sie eines Tages erwachsen wären.
»Ich möchte drei Kinder«, sagte Greta. »Einen Jungen und zwei Mädchen.«
»Warum nicht zwei Jungen?«
»Das wären mir zu viele Rabauken.«
»Rabauken, so, so.« Finn beugte sich vor und sein Mund streifte Gretas Wange. »Was hast du gegen Rabauken?«
»Gar nichts, solange sie älter als dreizehn sind.« Greta kicherte und Finn warf ein Kissen nach ihr. In gespielter Entrüstung fiel sie über ihn her und kabbelte sich mit ihm. Immer häufiger endeten diese Spielereien in einer zärtlichen Umarmung.
Ihren ersten richtigen Kuss erhielt Greta am See, an einer einsamen Stelle, an der Bäume und Sträucher dicht am Ufer wuchsen und es nur einen matschigen Pfad zum Wasser gab. Es war ein kühler, grauer Tag, aber das bemerkte sie gar nicht. Sie hatte nur Augen für Finn, der mit ihr durch die Natur streifte.
Er wirkte seit Tagen besonders zufrieden, weil er seinen Vater endlich dazu gebracht hatte, ihm das Reiten zu erlauben. Seitdem sprach er unentwegt von den Ponys auf dem Petershof. Greta, die mittlerweile im Reitverein bereits bei Turnieren mitmachte, bemühte sich, ihre Überlegenheit nicht zu zeigen. Sie fand es ohnehin erstaunlich, dass sich ein Junge wie Finn für Pferde interessierte.
Doch jetzt hatte er nur Augen für Greta. Er nahm ihre Hand und führte sie über Wurzeln und umgestürzte Baumstämme zum Ufer des Sees. Im Schilf hockten ein paar Enten, und eine kam neugierig näher, drehte aber bald wieder ab, als sie merkte, dass Greta und Finn kein Futter dabei hatten.
Sie fanden eine trockene, sandige Stelle zum Sitzen und genossen, wie so oft, wenn sie zusammen waren, das gemeinsame Schweigen, das sie aus den unterschiedlichsten Gründen verband, seit sie einander kannten. Doch jetzt hatte es eine neue Qualität erlangt.
Es war kein verlegenes oder zorniges Schweigen, kein ablehnendes oder unsicheres mehr. Es war ein einvernehmliches, zufriedenes Schweigen, das ihre innere Verbindung nur bestärkte.
Finn legte einen Arm um Gretas Schultern und nahm ihre Hand. Mit dem Daumen rieb er zärtlich über ihren Handballen. Greta genoss die Nähe zu ihm. Es war aufregend, seinen kantigen Körper zu spüren, die Wärme und den Herzschlag, seinen Atem auf ihrer Haut.
Jetzt bedeckte Finn ihren Nacken mit zarten Küssen und Greta seufzte unwillkürlich auf. Sie wandte sich ihm zu und zeichnete mit den Fingerspitzen die Konturen seines Gesichts nach. Stirn an Stirn saßen sie beieinander und sie waren sich so nah, dass ihr Atem sich vermischte.
»Ich liebe dich«, sagte Finn, leise und rau und voller Ernst.
»Ich liebe dich auch.« Gretas Brust wurde weit und öffnete sich für Finn und die Liebe.
Finns Lippen streiften ihren Mund, leicht und zart wie eine Feder. Greta drückte ein winziges Küsschen auf seinen Mundwinkel, und dann spürte sie seine Lippen erneut auf ihrem Mund, weich und warm. Ihre Lippen teilten sich ein wenig, und auf einmal war da Finns Zungenspitze, die sich zaghaft vorwärts tastete.
Greta wurde ganz schwindelig, während Finn sie küsste, so unsicher und aufgeregt wie sie selbst. Ihr Körper geriet in Aufruhr, aber Greta begriff nicht recht, was da geschah. Sie wusste nur, dass es ein unfassbar köstliches Gefühl war, von Finn Janssen geküsst zu werden, und dass sie damit nie wieder aufhören wollte.
Finn war so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Gretas Liebe war das Kostbarste, was er jemals erlebt hatte. Er dachte unentwegt an sie und dabei hatte er gelegentlich auch sehr verbotene Fantasien. Er hatte unter dem Bett seines Vaters einen Karton mit Illustrierten gefunden, die verstörend aufregende Fotos von nackten Frauen und Männern enthielten, die »es« miteinander taten. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, all das, was er da sah, jemals mit Greta zu tun, boten ihm diese Bilder doch reichlich Stoff für Träumereien.
Hinzu kam, dass er in jenem Sommer nach seiner Konfirmation endlich reiten lernte. Nach dem Fiasko vor drei Jahren hatte er nicht gewagt, seinen Vater noch einmal auf das Thema anzusprechen. Aber der Wunsch wurde nicht geringer, und als er Ole Janssen eines Tages wieder mal begleitete, als der die Pferde auf dem Petershof beschlug, erhielt er unerwartete Unterstützung von Heinrich Peters.
»Wir bräuchten jemanden, der uns bei den Pferden zur Hand geht«, sagte er zu Ole Janssen. »Hinnerk baut den Reitbetrieb weiter aus und da könnte er Hilfe gebrauchen. Dein Junge kann doch gut mit Tieren. Er könnte sich ein bisschen Taschengeld verdienen.«
Ole Janssen hatte einen guten Tag. Und dass Finn Geld erhalten sollte, gefiel ihm außerordentlich. Er hörte sich an, was Heinrich Peters zu sagen hatte.
»Abgemacht«, sagte er und nickte erst Heinrich, dann Finn zu.
Und so war Finn von nun an beinah täglich auf dem Petershof. Er mistete Boxen aus, fütterte Pferde, reparierte Weidezäune, putzte und sattelte die Ponys für die Ferienkinder und führte sie Runde um Runde auf ausgetretenen Pfaden rund um den Hof. Als Entlohnung erhielt er ein Taschengeld und durfte obendrein reiten, mal nur ein paar Minuten, mal auch eine ganze Stunde – je nachdem, wie viel Zeit Hinnerk Peters erübrigen konnte und wie viele Ferienkinder die Pferde für sich beanspruchten.
»Die Gäste gehen vor«, schärfte Hinnerk ihm ein und Finn murrte nie, wenn er mal nicht zum Zuge kam.
Die körperliche Arbeit an der frischen Luft und mit den Tieren gefiel ihm. Er war kräftig für einen Vierzehnjährigen und schaffte alles, was Hinnerk ihm auftrug, bald mühelos. Und spätestens, als er das erste Mal mit Falco galoppieren durfte, befand er sich im siebten Himmel und wusste, dass er nie wieder in seinem Leben etwas Schöneres erleben würde.
Außer wenn er Greta küsste.
Die Monate zogen ins Land und es wurde Herbst. Greta traf sich nach wie vor heimlich mit Finn, wenngleich sie sich nur noch selten sahen. Greta musste viel für die Schule lernen. Sie war jetzt in der neunten Klasse und die Anforderungen wurden immer höher. Außerdem ging es ihrer Mutter wieder schlechter. Sie verließ wochenlang kaum das Haus und Greta und Julia mussten viele Aufgaben im Haushalt übernehmen.
»Was genau hat deine Mutter eigentlich?«, fragte Mareike einmal, als Greta nach der Schule noch zum Einkaufen in das neu errichtete Einkaufscenter fuhr.
»Migräne«,