Das Paradies ist zu Ende. Louis Lautr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louis Lautr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742724182
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Jenseits des Baches war die befestigte Uferböschung und auf gleicher Höhe konnten wir die neue, geteerte Straße sehen, die durch das Dorf in Richtung Hornfleeg führte. Ich sagte zu Linde: „Wenn wir an das Geländer einige Bretter lehnen, dann können wir hier unsere Zielscheibe anbringen“. Linde und ich holten einige Bretter und lehnten sie an das Geländer. Mit einem Reißnagel befestigte ich die Zielscheibe, die ich aus Packpapier mit Buntstiften aufgemalt hatte. Die Scheibe hatte einen Durchmesser von etwa 60 cm, die Kreise waren deshalb ziemlich groß. Linde sagte: „Es sieht aus, wie ein indianischer Marterpfahl, man könnte auch einen Menschen da hin stellen. Wenn Katharina angebunden wäre, würde ich jedes Mal treffen.“ Ich sagte: „Linde, zum Glück bist du nicht so, wie du tust. Du könntest nicht auf Menschen schießen.“ Wir hörten, wie draußen die Rollwägelchen fuhren. Linde, zog mich in das kleine Büro von Hartmuts Vater und setzte sich auf den Tisch und nahm mich in ihre Arme. Sie hatte ihren Schlüpfer ausgezogen. Ich hatte sie auf den Ablagetisch in der hinteren Ecke des Büros gesetzt und legte einen Keil unter die Türe. Auf dem Bretterboden im Sägewerk hörte man jeden Schritt. Wir konnten kaum schmusen, weil wir durch die lauten Rollwägelchen abgelenkt wurden und auf eventuelle Schritte hören mussten. Als wir wieder auf den Holzplatz kamen, hatte Harald den Eilzug als Lockführer übernommen und Hartmut den Schnellzug. Hartmut und Harald wollten eine Pause machen. Wir können jetzt mit unserem Schleuderturnier beginnen. Rosa kündigte das Schleuderturnier an. Wir hatten seit Tagen passende Kieselsteine gesammelt. Hartmut und Angelika wollten nicht mitspielen. Hartmut wollte Angelika in dem kleinen Büro seines Vaters, das Fachwerkhaus zeigen, das er gebastelt hatte. Ich sagte zu Hartmut: „Die hintere Ecke des Büros kann man von keiner Seite sehen. Wenn jemand kommt, hüpfe ich dreimal, das Dröhnen des Holzbodens bemerkst du und ich schreie ganz laut bravo. Du kannst auch den kleinen Keil unter die Türe legen.“ Hartmut bedankte sich und nahm den kleinen Keil, den ich ihm gab. Wir hatten vier Schleudern, die von Hartmut, Rosa, Linde und von mir. Jede durfte testen, mit welcher Schleuder sie schießen möchte. Harald, Sonja und Irina wollten weiterhin Eisenbahn spielen. Ich sagte, sie könnten mit meinem Schnellzug fahren. Wir standen mit unseren Schleudern auf einem Brett, das wir im Sägewerk auf den Boden gelegt hatten. Zur Zielscheibe waren es etwa zwanzig Meter. Wir wollten in alphabetischer Reihenfolge schießen. Sonja sagte, sie hätte noch nie mit einer Schleuder geschossen, und meinte ich sollte doch beginnen. Ich schoss, der Stein klatschte auf das Papier und das Brett. Man sah den Abdruck im blauen Feld. Nach mir kam Rosanna, sie traf den roten Kreis in der Mitte. Reinhild, die eigentlich auch kein Interesse an einer Schleuder hatte, traf gerade noch die Zielscheibe. Linde, die inzwischen Übung hatte, traf ebenfalls ins Blaue. Sonja, die zum ersten Mal schoss, hatte beobachtet, wie Rosanna die Schleuder hielt und traf genau neben meinem Abdruck den blauen Ring, alle waren erstaunt. Katharina überraschte uns, sie traf neben Rosanna ins rote Feld. Sie sagte, ihr Vater, hätte ebenfalls eine Schleuder. Es ging in die zweite Runde, als wir den Postbus hörten, schoss gerade Rosa. Es gefiel mir, wie sie dastand und ihre Schleuder bis zum Äußersten spannte. Der Stein zerriss das Papier, er klatschte jedoch nicht auf das Holz, sondern traf genau die Ritze zwischen den beiden Brettern und donnerte jenseits des Baches, gegen den gelben Postbus. Ich rief: „Alle hinlegen, damit uns keiner sieht!“ Der Busfahrer und die Fahrgäste hatten den Schlag gehört. Der Busfahrer hielt und schaute sich um. Wir robbten uns vor bis zum Geländer und schauten auf die andere Straßenseite. Wir sahen die Fahrgäste, die teilweise ausgestiegen waren. Da es im Sägewerk ziemlich finster war, konnten uns weder der Busfahrer, noch die Fahrgäste sehen. Wahrscheinlich konnte man die kleine Beule, die der Stein im gelben Blech hinterlassen hat, kaum sehen. Der Busfahrer sah die Kinder auf dem Holzplatz und fragte, ob sie den Schlag auch gehört hätten. Sonja sagte: „wir haben nichts gehört.“ Busfahrer und Fahrgäste sahen uns glücklicherweise nicht. Sie stiegen wieder in Bus und fuhren weiter. Wir standen auf, sahen uns erleichtert an und lachten. Als wir uns umdrehten, kam Alinas Mutter, wie eine Furie auf ihre Tochter zugelaufen. Alinas Kleid war durch das Robben, im Sägewerk, etwas hoch gerutscht. Alinas Mutter schrie ihr Kind an: „Habe ich dir nicht verboten mit Buben zu spielen“. Hartmut hatte das Geschrei gehört, er kam aus dem Büro geschlichen und war froh, dass es nicht seine Mutter war. Alina sagte weinerlich: „Mutter, wir haben doch mit den Rollwägelchen Eisenbahn gespielt und schau mal wir sind sieben Mädchen und nur drei Buben. Es gefällt uns, bitte lass mich weiterspielen.“ Damals waren Mütter und Väter allmächtig und die meisten bestraften ihre Kinder, mit Schlägen. Frau Kling, eine böse Witwe, packte ihre Tochter im Genick und hob im Sägewerk einen Kantenstock auf, legte Ihre Tochter über einen Baumstamm und schob ihren Rock hoch, Alina rief: „Bitte, bitte zieh doch nicht meinen Rock hoch.“ Ihre Mutter schrie sie an: „Ja glaubsch i will nachher dein Rock bügle, i werd dir no dein Schlüpfer runter ziehe, on dir dein nackte Arsch versohle, dass du des schpürsch!“ Ich drehte mich um und nahm Harald mit, damit Alina nicht dachte, wir hätten bei der Bestrafung zugesehen. Alina schrie erst laut, dann immer leiser. Sie konnte, als ihre schreckliche Mutter aufhörte, nur noch jammern. Dann schrie ihr Mutter nach Irina, die schon weinte, als sie ihre Schwester auf dem Stamm liegen sah. Frau Kling legte die kleine Irina, die vielleicht zehn war, neben ihre Schwester und zog ebenfalls ihr Kleid hoch und versohlte mit dem Kantholz auch ihre kleine Tochter. Dann packte sie ihre beiden jammernden Kinder an der Hand, zerrte sie von dem Holzstamm und schlug ihrer Alina nochmals mit der Hand ins Gesicht und schrie sie an: „Jetzt wirsch dir hoffentlich merke, dass du künftig nicht mehr mit Jungs schpielsch.“ Alina antwortete weinend: „Aber Mutter, schau doch, bitte, es sind doch fast alles Mädchen.“ Ihre Mutter schlug ihr nochmals ins Gesicht und schrie sie an: „Aber es sin au drei Buben dabei!“ Sie gab ihr nochmals einen Klaps auf den Po und schrie sie an: „Und jetzt sei endlich still und komm heim!“ Rosanna hatte meine Schleuder gesehen und meinen Zorn bemerkt, sie nahm meine Hand, und sagte: „Bitte Louis, tu der bösen Frau nichts.“ Auf der Straße standen einige Nachbarinnen, die das Geschrei gehört hatten und der Szene zuschauten. Manche Weiber nickten beifällig, eine sagte den alten Bibelspruch: „Wer sein Kind liebt, züchtigt es.“ Eine andere sagte zu der weinenden Alina: „Ja, wer nit höre will, muss fühle.“ Rosa sagte: „Warum sind die Weiber so böse und Schadenfroh?“ Wir kamen uns hilflos vor, weil uns beide Mädchen leid taten und standen ziemlich betreten im Sägewerk. Nur Angelika und Hartmut waren vergnügt, sie hatten sich angefreundet und waren glücklich. Angelika hielt ihr neues Fachwerkhaus in den Händen, das Hartmut ihr gebastelt hatte, er lächelte. Ich denke, sie hatten im kleinen Büro geschmust. Wir gingen aus dem düsteren Sägewerk zum Holzplatz und überlegten, ob wir weiterspielen wollten, als wir das Auto unserer Lehrerin hörten. Frau Kofer hielt und stieg aus und schenkte uns Bäckerschnecken. Sie hatte ein dunkelgraues Kostüm an mit einer kurzen taillierten Jacke und einem engen Rock, dazu eine weinrote Bluse mit einer silbernen Halskette, an der eine winzige silberne Taschenuhr hing. Sie trug schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe mit einem Keilabsatz. Mit ihrer schicken Sonnenbrille sah sie toll aus. Sie fragte: „Was ist geschehen? Ihr seht bedrückt aus.“ Wir wollten es alle gleichzeitig erzählen. Sie sagte: „Bitte nur eine, sonst verstehe ich nichts, Rosanna, bitte erzähle was geschah.“ Rosa erzählte von unserer Eisenbahn und von der Schleuder mit der sie den Postbus getroffen hätte und wie wir uns alle hingelegt hätten, damit uns keiner sehen konnte. Dann erzählte sie wie Frau Kling kam und ihren beiden Töchter schlug. Rosanna sagte: „Ich befürchtete, Louis würde sich überlegen, was er der bösen Frau tun könnte, ich hielt seine Hand.“ Frau Kofer setzte sich auf einen der Stämme, nahm meine Hand, strich über meine kurzen Haare und sagte: „Mein lieber Louis, du hast die Bestrafung als Unrecht empfunden und warst zornig. Gut dass du dich beherrscht hast. Versucht bitte euer Leben lang, den Zorn zu beherrschen. Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Ein Mensch, der im Zorn handelt, denkt kaum nach, weil sein Verstand vom Zorn besiegt wurde. Oft lässt man sich zu einer Tat hinreißen, die man nicht zurücknehmen kann. Lernt immer euern Zorn zu beherrschen und überlegt mit kühlem Kopf und ohne Zorn, was ihr tun könnt. Dadurch seid ihr andern Menschen überlegen. Louis, bitte denk dein ganzes Leben daran, denn nicht immer steht eine Rosanna neben dir und hält deine Hand fest.“ Wenn wir nicht auf dem Holzplatz gesessen hätten, hätte ich meine liebe Lehrerin umarmt. Ich sagte es ihr und sie meinte: „Du kannst mich gerne in der Öffentlichkeit umarmen, es mach mir nichts aus.“ Sie konnte verstehen, dass ich es nicht wollte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sie bei der Erzählung von Rosanna ein leichtes lächeln um die Mundwinkel hatte, insbesondere als Rosanna erzählte, wie Frau Kling Alina den Schlüpfer auszog.