Kapitel 1: Schwere Geburt
Am Sonntag den 19.10.1941 wurde ich während des zweiten Weltkriegs nachts kurz nach zwei Uhr geboren. Zwischen meinem zweiten und vierten Lebensjahr weinte und brüllte ich aus Zorn anscheinend einige Male so sehr, dass ich Atemstillstand bekam. Meine Mutter war Säuglingsschwester und konnte mit meinem respiratorischen Affektkrampf umgehen, sie hielt meinen Kopf unter kaltes Wasser, um den Krampf zu lösen. Mein Vater war im April 1944 gefallen und meine Mutter hatte kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs, alleine die Verantwortung für ihre drei Kinder. Meine Schwester und mein Bruder erinnern sich an meinen letztmaligen Affektkrampf, den ich mit dreieinhalb Jahre hatte, als wir, wie jeden Sonntag zu Fuß zur pietistischen Stunde gingen. Meine Geschwister waren dachten, ich könnte am Affektkrampf sterben, wenn meine Haut blau anlief und ich nicht mehr atmete. Meine Mutter nahm mich auf den Arm und rannte zu einem Brunnen. Als Wasser über meinen Kopf lief, atmete ich wieder. Meine achtjährige Schwester dachte, Gott hätte mir wohl einen aufmerksamen Schutzengel zugeteilt, damit mein Leben nicht als Kleinkind enden würde. Als ich siebzehn wurde, erzählte meine Mutter: „Mein lieber Louis, du bist mein Wunschkind, deine Geschwister waren Wunschkinder von meinem Mann und mir. Als ich in einer Vollmondnacht deinem Papa sagte, ich wünsche mir ein drittes Kind, sagte er, unser Nazideutschland führt einen Krieg gegen die ganze Welt und wird ihn sicher verlieren. Ich bin als Prokurist der Firma derzeit noch u.k. (unabkömmlich) gestellt. Leider wird Hitler mit seinen Naziarmee, jeden Mann für seinen Krieg brauchen, deshalb kann ich meine Familie nicht mehr lange begleiten. Es wäre unverantwortlich, unserem Kind diese schreckliche Welt zuzumuten. Ich hatte Gottvertrauen und schwindelte meinen Mann an, als ich ihm sagte, mein Liebster, du hast wahrscheinlich nicht aufgepasst, meine Periode ist ausgeblieben, antwortete dein Papa, dann hat Gott entschieden und wird auch meinem dritten Kind einen aufmerksamen Schutzengel zur Seite stellen. Dein lieber Papa wusste nicht, dass ich geschwindelt hatte und was für einen Schutzengel der liebe Gott für dich aussuchen musste. Als ich schwanger wurde bat ich Gott, mir einen Sohn zu schenken. Als meine Wehen Samstagnachts einsetzten, schlug ein Blitz, bei einem fürchterlichen Herbstgewitter, ins Transformatorenhaus und hüllte unser Dorf in tiefe Dunkelheit. Dein Papa radelte durch die Gewitternacht zur Hebamme. Mein Mann brachte mit der Hebamme alle Kerzen in unser Schlafzimmer. Als du geboren wurdest, hattest du die Nabelschnur um deinen Hals gewickelt und warst blau angelaufen. Die erfahrene Hebamme schlug dich mehrmals kräftig auf den Po. Als ich dich endlich leise wimmern hörte und die Hebamme mein Söhnchen in meine Arme legte, waren dein Papa und ich, mitten im Krieg, unendlich glücklich. Im flackernden Kerzenlicht konnte ich mein süßes Baby kaum sehen. Du hast als Sonntagskind bei romantischem Kerzenlicht das Licht der Welt erblickt. Morgens als deine Geschwister in mein Schlafzimmer kamen, freute sich unsere Familie über unser süßes Baby. Deine Schwester war besonders stolz, weil sie ein Brüderchen zum Geburtstag bekam. Sie hielt dich im Arm und wollte dich nicht mehr in mein Bett legen. Denke bitte in schwierigen Zeiten dran, dass du mein Wunschkind bist und ich Gott dankbar bin, dass dein aufmerksamer Schutzengel dich begleitet. Deine Schwester war sehr vorsichtig mit dir, sie sagte, mein Brüderchen ist Kriegsware, wir müssen achtsam mit ihm umgehen, damit es nicht kaputt geht.“ Meine Mutter lächelte, als sie daran dachte, und erzählte weiter: „Louis, weißt du, Kriegsware war damals ein stehender Begriff, für Waren und Produkte, die oft defekt und instabil waren. Während des Kriegs waren fast alle deutschen Männer in Hitlers Weltkrieg. Es gab Millionen von Zwangsarbeitern, die in unseren Fabriken arbeiten mussten. Heute wissen wir, dass Juden, Kriegsgefangene unter schrecklichen Bedingungen in unseren Fabriken arbeiteten. Sie wurden geschlagen, litten Durst und Hunger. Deshalb ist es verständlich, wenn sie in den Fabriken keine hochwertigen Produkte erzeugen wollten oder konnten.“ Meine Mutter wurde am 06.11.1910 in Stuttgart als achtes Kind geboren, sie wurde 84 Jahre alt und starb am 14.7.1993. Meine Schwester, Dörte, wurde am 21.10.1936 in einer Klinik in Stuttgart geboren, sie ist fünf Jahre älter als ich. Mein Bruder, Michael, wurde am 04.07.1938 in einem kleinen Schwarzwalddorf geboren, er ist drei Jahre älter als ich. Mein Vater wurde am 18.04.1908 geboren, er ist im April 1944 mit 36 Jahren gefallen, an ihn habe ich leider keine bewusste Erinnerung.
Meine Erinnerungen beginnen in Larenbuch, einem Schwarzwalddorf mit etwa 4000 Einwohnern, davon waren 85 Prozent katholisch. Obwohl die Kirchensteuer in unserer Bundesrepublik damals noch nicht von Finanzämtern eingezogen wurde, waren Kirchen mächtiger als heute. Wenn Katholiken und Protestanten heirateten, wurde von Mischehen gesprochen. Unsere Familie war evangelisch mit pietistischen Wurzeln und deshalb in der Diaspora des Dorfes. Meine liebevolle Mutter konnte ihre drei Kinder in den Kriegs- und Nachkriegszeiten mit damaliger kleinen Kriegswitwen- und Waisenrente, mit Hamstern und einem geringen Zusatzverdienst der Kirche einigermaßen ernähren. An zwei Schulen unterrichtete sie evangelische Religion und am Sonntag Kinderkirche. Da ich ohne Vater aufwuchs, liebte ich meine Mutter und meine Geschwister. Durch den frühen Tod ihres Mannes fehlte meiner Mutter ein Partner, der in schwieriger Nachkriegszeit, die Verantwortung mit ihr teilte. Sie besprach deshalb fast alles mit meiner zwölfjährigen Schwester, die damals früh Verantwortung für unsere Familie mit meiner Mutter teilte. Meinem elfjährigen Bruder, wurde ebenfalls früh Verantwortung übertragen. Als kleiner Junge ging er, bei den uns bekannten Bauern alleine Hamstern, was mit Betteln gleichzusetzen war. Viele Bauern kannten unsere Familie durch die Glaubensgemeinschaft mit pietistischer Stunde. Deshalb kannten sie auch meinen Bruder, der mit Rucksack und Milchkanne, Wege bis zu fünfzehn Kilometer ging, um mit Milch, Brot, Mehl und Eier zurückzukehren. Meine Erinnerungen beginnen mit der Nachkriegszeit, an Kriegszeiten kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern, als wir eines Nachts mit Kleidung und Schuhen ins Bett gingen, weil Larenbuch am Kriegsende verteidigt werden sollte. Glücklicherweise wurde unser Dorf nicht verteidigt. Als Französische Soldaten mit Panzern, Lastwagen und Infanterie in unser Dorf kamen, hatten die Einwohner weiße Leintücher aus den Fenstern gehängt. Ich meine, mich an meinen toten Vater zu erinnern, wie er in der Friedhofskapelle aufgebahrt im offenen Sarg lag.
Eine der wichtigsten Tätigkeiten der Nachkriegszeit bestand, in meinen Erinnerungen, aus Hamstern. Ich war für diese Tätigkeit noch zu klein. Oft war meine Mutter unterwegs beim Hamstern, manchmal mit Dörte, manchmal mit Michael und manchmal mit Dörte und Michael. Es gab Zeiten, an denen sie mehrere Tage unterwegs waren. Unser Bundesland war in Besatzungszonen eingeteilt. Für deren Verlassen musste bei der Kommandantur ein Passierschein beantragt werden. Wenn meine Mutter mit meinen beiden Geschwistern unterwegs war, nahm mich die Familie auf, die im oberen unsers dreistöckigen Hauses wohnte. Es war ein Ehepaar mit einer Tochter, die etwas älter war, als meine Schwester. Ich fand Hamstern spannend, denn ich wusste nie, wann Mutter wieder zu Hause war, um ihre Hamstersachen auspackte. Ich war noch zu klein und sorgte mich noch nicht. In meiner Erinnerung lebten wir weitgehend von Kartoffeln, Kraut und Rüben. Rüben aß ich, trotz Hunger, nicht. Brot und Teigwaren waren seltene Genüsse, weil Mehl zu Lebensmitteln gehörte, die nur mit Lebensmittelmarken zu kaufen waren. Es wurde bei allen knappen Produkten, die man auf Lebensmittelmarken erhielt, betrogen. Skandale wurden nur als Dorftratsch bekannt. In die Presse gelangten sie nicht, weil es keine freie Presse gab. Rundfunkanstalten wurden von Besatzungsmächten kontrolliert, deshalb wurden Skandale verschwiegen. Damals waren wir weit entfernt von der Pressefreiheit, die uns heute selbstverständlich ist. Heizmaterial im Schwarzwald bestand vorwiegend aus Holz. In unserer Familie wurde nur die Wohnküche beheizt. Heißes Wasser gab es in einem sogenannten Schiff, einem Behälter, der in Herd eingelassen war und vom Holz- oder Kohlefeuer erhitzt wurde. Es wurden im Laufe eines Jahres, soweit ich mich erinnern kann, fünf Meter Holz gesägt, gespalten und auf den Dachboden in einem Korb mit einem Seil über ein Rad, das am Dachfirst befestigt war, hochgezogen und aufgeschichtet. Viel Zeit wurde mit Holzspalten verbracht. Menschen verfügten damals über viel Zeit, weil viele Menschen arbeitslos waren. Hausbewohner halfen sich gegenseitig beim Holzspalten und beim Aufschichten. Einmal jährlich kam ein Holzsäger, der mit einer traktorähnlichen Kreissäge die Holzstämme zersägte. Mein Bruder und ich spalteten mit dem Beil auf einem Spaltklotz die zersägten Stämme zu Holzscheiten. Unser Holzsäger war Pfälzer und hatte eine Dorfbewohnerin geheiratet. Er war ein „Reingschmeckter“ und sprach pfälzisch, was ich lustig fand. Da seine Säge schon alt war und er gerne pfälzischen „Äppelwei“ trank, hat er sich mit seiner alten Kreissäge mehrmals in Arm, oder in die Hand gesägt. Sein Schutzengel, bewahrte ihn von einer Amputation.
Unsere Familie lebte in einer drei Zimmerwohnung im Parterre. Mutter und Dörte schliefen im Doppelbett des ehelichen Schlafzimmers. Meine Mutter hatte unsere