«Ganz meine Meinung. Ich bin müde», sagt er und gähnt demonstrativ.
«Ich auch. Jedenfalls haben wir himmlisch miteinander gevögelt. Ein Feuerwerk für mich. Nach einem Orgasmus schlafe ich immer gut. Nacht, Richard. Schlaf gut. Träum was Schönes», sagt sie und sieht ihn entspannt lächelnd an. Sie beugt sich über ihn, platziert gönnerhaft einen Kuss mitten auf seine Stirn, dreht sich und zieht das Oberbett bis zum Kinn hoch.
Liegt da wie in einem Kokon, denkt Richard. Scheinbar friedlich. Und entpuppt sich morgen wieder als Xanthippe.
«Gute Nacht», sagt er mit gepresst klingender Stimme und schaltet das Licht aus.
Richard fühlt sich mehr befremdet als befriedigt. Die Frau, die regungslos neben ihm liegt und auf den Schlaf zuatmet, ist zwar seine eigene, aber ihn scheint mit ihr nicht mehr zu verbinden als mit einer First-Class-Gespielin. Schon wieder kommt ihm hier alles künstlich vor, ohne echte Privatheit. Aber so stark wie heute hat er es noch nie empfunden. Ein Ehekrampf, der sich längt. Er dreht sich von der einen auf die andere Seite und wieder zurück, schwer ausatmend. Er starrt ins Dunkle. So geht es nicht weiter. So will er doch nicht leben. Und so braucht er auch nicht zu leben. Kein Zaudern, kein Zögern mehr. Er sollte jetzt schnell für klare Verhältnisse sorgen. Unnötiger Ballast. Alles andere ist schon schwer genug. Diesen trägen Ablösungsprozess muss er beschleunigen. Auch ihre sexuelle Schauspielerei sollte aufhören. Das Bett war heute wieder eine Bühne. Jeder hat routiniert seine Rolle gespielt. Eine Art Duell. Erst spannend und lustvoll, dann ernüchternd und befremdend. Was hat er denn davon? Darauf müsste er jetzt verzichten können. Schließlich hat er ja Birgit. Mit ihr genießt er den Sex ganz anders als mit Iris. Es ist echter, leidenschaftlicher. Und dabei spürt er eine Innigkeit, die ihn erstaunt und erfreut. Ist er nicht schon längst mit ihr zusammen und nicht mehr mit Iris? Im Grunde ist nicht Birgit seine Geliebte, sondern Iris. Die eigene Frau als Geliebte. Also betrügt er Birgit mit seiner Frau. Streng genommen. Daran hat er ja noch gar nicht gedacht. Es stimmt. Auch ein Grund dafür, dieses Getue mit Iris zu beenden. Sonst würde er Birgit mit ihr weiter betrügen. Dieses Spiel ist aus. Es hat keinen Sinn mehr. Hier hat sowieso nichts mehr einen Sinn. Alles geht nur noch den Bach runter.
Richard dreht sich abrupt auf die andere Seite, weiter weg von Iris, die sich im Schlaf nah an ihn heran gelegt hat. Es stört ihn, dass er mit ihr zusammen im Bett liegt, ihr Parfüm riecht, sie atmen hört. Er überlegt, ob er aufstehen und im Gästezimmer schlafen soll, lässt es aber sein, weil ihm das übertrieben erscheint und mitten in der Nacht auch zu unbequem ist. Doch ab morgen wird er mit ihr nicht mehr zusammen in diesem Raum schlafen. Seit einiger Zeit löst die Einrichtung bei ihm ein Unbehagen aus. Sie schafft eine Intimität, die ihm auf die Nerven geht. Die runden Art-déco-Formen, der Einsatz von weichem Licht, die erotische Kunst an den Wänden. Als hätte sich eine sehr sinnliche Innenarchitektin hier ausgetobt. Die erotischen Aquarelle sind ihm zu ausgewogen, zu sehr auf Schönheit und Sinnlichkeit getrimmt. Der große Spiegel mit geschnitztem Holzrahmen gegenüber dem Bett gehörte für ihn anfangs zum erotischen Spiel, verlor dann aber seinen Reiz. Wenn er heute hineinsieht, was nur noch kurz geschieht, kommt er sich wie auf einer Bühne vor. Und es lenkt ab. Für Iris jedoch ist ihr gespiegelter Sex noch immer fesselnd. Sie verändert sogar deswegen die Stellung, eine Stimulanz für sie. Den Raum hat sie fast allein gestaltet; darauf ist sie stolz. Obwohl er ihn lieber anders eingerichtet hätte, ließ er sie damals, in ihrer besten Zeit, als eine Art Liebesbeweis ihre Vorstellungen verwirklichen. Im Gegensatz zu früher fühlt sich Richard heute im Schlafzimmer nicht mehr wohl. Zu geschmäcklerisch, zu feminin, zu viel Art déco, ihr Lieblingsstil. Sie neigt zum Kunstgewerblichen. Sie ist zu viel mit Werbefritzen zusammen. Das färbt ab, ist geschmacksbildend. Er ist ihre Welt. Sie ist gern Art Direktorin, hat Erfolg, verdient glänzend. Ich bin eine gute Allrounderin, behauptet sie von sich. Ihr eigenes Qualitätssiegel, mit dem sie sich wie mit einer Auszeichnung brüstet. Richard weiß bis heute nicht, ob ihr starkes Ego mehr mit ihrem Selbstbild verknüpft ist oder wie sie von anderen gesehen wird und gesehen werden will. Sie achtet darauf, dass alles werbewirksam zurechtgemacht wird. Das richtige Werbekonzept, vor allem darauf kommt es an. Für Richard jedoch produziert sie Blendwerk. Dazu gehört sie wohl auch, mehr oder weniger. Sie weiß, wie sie am vorteilhaftesten wirkt, ist ihr eigenes Werbeprodukt. Sie beherrscht das parfümierte Gequassel und kommt damit gut an. Aber bei ihm nicht mehr. Zu lange hat er sie überschätzt, sich etwas vorgemacht. Geblendet von seinen Illusionen, befeuert von ihren erotischen Auftritten. Ähnlichkeiten, die keine waren. Aufkeimende Zweifel hat er überschminkt. Architekt und Art-Direktorin, das schien ihm gut zu passen. Beide kreativ, ein beneidenswertes Paar, das auf sich stolz war. Er machte es sich zurecht, konstruierte ein Beziehungsgebilde ohne echte Basis. Eitel sonnten sie sich in Oberflächlichkeiten, machten sich etwas vor, schminkten ihre Ehe zurecht. Doch dann bekam die Fassade Risse, der Lack blätterte ab, die Korrektur begann. Und jetzt, denkt er, sich auf den Rücken drehend und die Lippen zusammenpressend, wird das Finale eingeläutet. Nach acht Jahren. Es wird höchste Zeit. Rien ne va plus. Was ist das bloß für ein Leben hier?, grübelt er, von Unzufriedenheit übermannt. Ohne Zukunft. Total entwertet. Seine Ehe hat nur noch Schrottwert. Sie muss entsorgt werden, damit sie ihn nicht weiter belastet. Und seine Mutter? Die wird doch immer schwieriger, ist verbittert. Auch eine Belastung. Er kann sie verstehen. Eine besonders schwere Zeit für sie. Für ihn auch. Was er hier gestaltet und genossen hat, wird es bald nicht mehr geben. Zerstört und ausradiert. Er bekommt es einfach nicht aus seinem Kopf. Es besetzt weiterhin sein Denken, dominiert ihn. Wie kann er sich bloß davon lösen?
Gelassener werden, sich an das Unvermeidliche gewöhnen. Was bleibt ihm denn anderes übrig? Er muss das durch, Abschied nehmen, braucht aber noch Zeit dazu. Ohne Birgit würde es ihm schwerer fallen, zweifellos. Sie lässt ihn nicht in Selbstmitleid zurücksinken, stärkt ihn, bietet ihm eine neue Perspektive. Sie gehört bereits zu seinem Neubeginn. Mit ihr zusammen wird er hoffentlich bald wieder sein Leben umarmen können.
Richard merkt, wie Müdigkeit ihn stärker durchrieselt. Seine Gedanken bleiben noch bei Birgit, beginnen aber schon durcheinander zu treiben, so lange, bis alles verschwimmt und er im Schlaf versinkt.
Wenn vor 30 Millionen Jahren die Erdkruste in der Niederrheinischen Bucht nicht durch gewaltige Senkungsbewegungen umgeformt worden wäre und die üppige, artenreiche Vegetation der küstennahen Urwälder sich nicht zu Torf zersetzt hätte, der nach Meeresüberflutungen und Meeressenkungen von Schichten aus Sand, Kies und Ton überlagert, zusammengepresst und allmählich zu den größten Braunkohlenflözen Europas verdichtet wurde, dann hätten sich Energiewirtschaft und Politik nicht zu einer skrupellosen Braunkohle-Allianz verbündet und dann würde auch nicht Richard Lindners Jugendstilvilla in naher Zukunft von der Abrissbirne des Machtmissbrauchs zerstört werden. Verglichen mit den in Urzeiten entstandenen Braunkohlenflözen, die jetzt hemmungslos ausgebeutet werden, hat sie eine nur Wimpernschlag lange Geschichte.
Die 1912 erbaute Villa diente anfangs einem Stolberger Textilfabrikanten als standesgemäßes Renommier-Domizil, sollte der steinerne Beweis für seinen unternehmerischen Erfolg sein. Einem Kölner Architekten war es gelungen, ein dreigeschossiges, harmonisch gegliedertes Bauwerk zu gestalten, das von einem gemäßigten Jugendstil geprägt wurde; dafür sorgten auch die geschickt verteilten Renaissance-Anklänge.
Für Richard eine meisterhafte Baukomposition, die er von Anfang an sehr schätzte. Eine überzuckerte Jugendstilvilla, bei der sich, dafür kennt er einige abschreckende Beispiele, naive Formspielereien zu stark in den Vordergrund drängen, hätte er nicht gekauft.
Nach dem Ersten Weltkrieg bezog ein Aachener Chirurg mit großer Familie die Villa, der sie später als rheumageplagter, in Südfrankreich Linderung erhoffender Ruheständler an einen heute vergessenen Bestseller-Autor verkaufte. Die wechselnden Besitzer, darunter auch ein virtuoser Hochstapler, und die sich über Jahrzehnte erstreckende Gebäudealterung nahmen der Villa einiges von ihrem architektonischen Glanz.
Viel zu spät, erst 1982, als die Verunstaltungen schon alarmierend waren, wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Trotzdem häuften sich Versäumnisse. Das unter strikten Sparmaßnahmen leidende Amt für Denkmalschutz kontrollierte nur lasch die Auflagen und bezuschusste die jeweiligen Eigentümer mit zu niedrigen Beträgen, die nur die nötigsten Restaurierungsarbeiten abdeckten.