«Mutter, du hältst dich doch gleich zurück?»
«Werd’s versuchen.»
Richard sieht seine Mutter skeptisch an, überlegt kurz.
«Es ist besser, wenn ich zuerst alleine mit ihm rede. Etwa eine halbe Stunde. Du kommst später, bringst uns dann einen Kaffee und versuchst, ruhig zu bleiben. Auch wenn du innerlich kochst.»
«Versprochen.»
«Du kannst uns ja auch deinen leckeren Apfelkuchen servieren.»
«Was? Meinen selbst gebackenen Apfelkuchen?», ruft Anna aus, theatralisch ihre Arme hochwerfend. «Den kriegt doch so ein Mistkerl nicht. Man kann es auch übertreiben, Richard. So freundlich brauchen wir nicht zu sein. Bringt sowieso nichts.»
«Schon gut, Mutter. Du hast recht. Der Kaffee genügt.»
«Das meine ich auch.» Sie zieht den Küchenstuhl zu sich, setzt sich, legt die Arme auf den Tisch, streckt die Beine aus.
«Du scheinst müde zu sein. Hast du heute wieder alles auf Hochglanz poliert?», fragt Richard und lässt seinen Blick durch die Küche schweifen. Ihre ganz in Weiß gehaltene moderne Ausstattung steht in einem reizvollen Kontrast zu den hohen, rustikal verputzten Wänden und den rundbogigen Sprossenfenstern.
«Ja. Das lenkt mich ab. Und ich mache es ja auch gern. So eine schöne Küche werden wir wohl nicht mehr haben. Allein der Raum ist schon ein Gedicht.»
«Ja. Ist etwas ganz Besonderes», sagt Richard. «Auch wegen des Lichts. Wenn ich daran denke, wie schlecht damals die Sprossenfenster –», er unterbricht sich, winkt ab. «Ach, das ist jetzt nicht so wichtig.»
«Sag mal, Richard», fragt Anna nach kurzem Schweigen, «wird Iris heute wirklich nicht bei dem Verkaufsgespräch dabei sein?»
«Das schafft sie nicht. Sie kommt erst gegen sieben zurück. Hat noch eine Besprechung», antwortet Richard.
«Eine Besprechung. Na ja», sagt Anna betont mehrdeutig und sieht Richard nachdenklich an. «Ihr habt gestern wieder gestritten. Und es wurde ziemlich laut.»
«Ging so. Es wurde zwar laut, hielt sich aber in Grenzen.»
«Versucht, weniger miteinander zu streiten. Bringt doch nichts. Ihr wisst ja beide, dass ihr euch auseinandergelebt habt.»
«Stimmt.»
«Ach, Richard, das ist kein schönes Leben mehr hier. Ganz anders als früher. Eine Atmosphäre zum Davonlaufen. Jetzt geht aber auch wirklich alles den Bach runter.»
«Übertreib nicht.»
«Es ist aber so. Wollt ihr euch scheiden lassen?», fragt Anna.
«Ist noch alles offen», antwortet Richard ausweichend. Er will jetzt nicht mit seiner Mutter über seine aus den Fugen geratene Ehe sprechen.
«Das wäre vielleicht besser so. Iris hat schwer nachgelassen. Sie ist richtig giftig geworden. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Und Kinder kann sie sowieso nicht bekommen. Ich hätte zu gern Enkelkinder», sagt sie und blickt aus dem Küchenfenster. Sie muss an den kleinen Fabian denken, dem sie vorhin im Dorf begegnet ist.
«Fang doch nicht schon wieder damit an», sagt Richard, unwillig seinen Aktenkoffer ergreifend. «Ich gehe jetzt nach oben, entspanne mich ein bisschen, bevor Efferen kommt.»
«Mach das. Und dann zeig’s ihm. Richard, Sekunde, was ich dir noch erzählen wollte. Du kennst doch die Glandows?»
«Flüchtig.»
«Fabian, ihren kleinen Sohn, habe ich vorhin im Dorf getroffen. So ein süßes Kerlchen.» Sie schweigt kurz, lächelt gedankenverloren. «Er tat mir richtig leid. War ganz am Boden zerstört.»
«So? Und warum?», fragt Richard uninteressiert.
«Er weinte ganz bitterlich. Nur weil er lumpige zwei Euro verloren hat. Sie sind ihm in den Gully gefallen. Er hatte Angst vor einem Donnerwetter zu Hause. Ich habe ihm zwei Euro gegeben, damit er keinen Ärger bekommt. Und auch noch zwei Euro dazu, nur für ihn. Wie der mich mit seinen großen Kulleraugen angestrahlt hat!»
«Du bist ihm wohl wie ein Engel erschienen», sagt Richard seine Mutter anlächelnd. «Und du hast dich darüber gefreut, dass du ihm helfen konntest.»
«Ja. Es war ein gutes Gefühl. Vielleicht das Beste vom ganzen Tag. Wenn ich so ein Enkelchen hätte, dann würde ich mich –», sie bricht ab, macht eine resignierende Handbewegung.
Richard geht zu seiner Mutter, umarmt sie, weiß nicht, was er sagen soll.
«Ist schon gut, Richard. Nicht so wichtig», sagt sie, entwindet sich und bückt sich zur Einkaufstasche hinunter.
«Wir schaffen das alles, Mutter», sagt er mit leiser Stimme. Bevor er die Küchentür öffnet, dreht er sich noch einmal nach seiner Mutter um. Als wäre ihr alles zu viel geworden. Mit düsterem Gesichtsausdruck und kraftlosen Bewegungen legt sie Lebensmittel auf den runden Küchentisch.
Als er in der hallenartigen Diele die Treppe hochsteigt, kommt er sich wie jemand vor, der ungerecht verurteilt worden ist. Ein Gefühl der Ohnmacht befällt ihn. Das Urteil steht ja schon längst fest. Die Zeit läuft ab. Das alles hier wird er verlieren. Er muss verkaufen, einem juristisch abgesegneten Zwang zustimmen. Sonst würde man ihn enteignen. Wie alle anderen. Zustände wie in einer Bananenrepublik. Jeder Widerstand wäre zwecklos. Er ist das Opfer einer offiziellen Erpressung geworden. Gebeugtes Recht.
Als er das Obergeschoss erreicht, bleibt er auf dem Flur stehen und fährt mit der rechten Hand über den schneckenförmig endenden Handlauf der Treppe. Nicht mehr lange wird er das glatte, schön geschwungene Holz anfassen, nicht mehr lange die Treppe hochsteigen und den besonderen Charakter dieses Raumes genießen. Er hat ihn mit viel Aufwand umgebaut und gestaltet. Er bildet das großzügige und eindrucksvolle Zentrum der Villa. Die in einem weiten Bogen nach oben gestufte Jugendstil-Holztreppe gliedert den Raum, wirkt elegant und schwebend. Trotz der außergewöhnlichen Maße strahlt die von der Treppe bestimmte riesige Diele eine einladende Atmosphäre aus. Großformatige abstrakte Bilder hängen an den Wänden, Kleinmöbel im Art-déco-Stil sind zurückhaltend platziert. Ein wuchtiger, schmiedeeiserner Kronleuchter hängt an der Stuckdecke, bildet einen Blickfang im Eingangsbereich. Die Maserung des weißen Marmorbodens sieht wie filigranes Astwerk aus. Hohe schmale Fenster, die vom Erd- bis zum Dachgeschoss symmetrisch angeordnet sind, lassen viel Tageslicht einfallen.
Richards Blick schweift durch den Raum, während er langsam auf sein Zimmer zugeht. Trübe Gedanken sammeln sich in seinem Kopf. Wie viel Aufwand ihn allein schon der Umbau gekostet hat! Und Geld. Dieses Planen, Verwerfen und Verbessern, um seine Vorstellungen zu realisieren. Umgebaut und renoviert, schön gemacht für die Zerstörung. Er besitzt ein Baudenkmal ohne Zukunft, weniger geschützt als eine schäbige Mietskaserne. Richard schüttelt den Kopf über sich selbst. Wie naiv er gewesen ist. Ein träumender Architekt. Es sollte ein Haus fürs Leben werden. Ein außergewöhnliches, denkmalgeschütztes Heim für ihn und seine Familie, auf das er stolz sein konnte. Ein Schmuckstück mit Platz in Hülle und Fülle. Doch das Leben, das er sich ausgemalt hat, ist eine Wunschvorstellung geblieben, zertrümmert von einer Wirklichkeit, die ihn anwidert. Seine Ehe löst sich mit den üblichen, abgedroschenen Verfallserscheinungen rasant auf, ein Familienleben wird es in diesem Haus nie geben, bald wird es dem Erdboden gleichgemacht und um eine angemessene Entschädigung für die Vertreibung von hier muss er gleich feilschen. In was für eine Lage er geraten ist! Nicht zu fassen! Es ist eine Katastrophe, an die er sich irgendwie gewöhnen muss. Keine Chance, es zu ändern.
Als würde es eine Beleuchtungsdramaturgie geben, fallen Sonnenstrahlen schräg durch die hohen, schmalen Fenster in die riesige Diele, schaffen Lichteffekte. Richard stellt seinen Aktenkoffer ab, stützt die Arme auf das Holzgeländer, blickt nach unten. Er spürt Leere. Wie sinnlos hier alles geworden ist! Endstation. Die Frau, die er einmal geliebt hatte, mutiert immer mehr zu einer Xanthippe. Und er? Nur noch ein enttäuschter und genervter Ehemann. Erst Anziehung, dann Abstoßung. Eine Bruchlandung der Gefühle. Was verbindet