Gegen den Koloss. Achim Balters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Balters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752642
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ziemlich ramponierten Zustand. Sie erinnerte ihn an eine ehemals schöne Frau, die sichtlich gealtert war und sich vernachlässigte. Die architektonische Schönheit war noch immer erkennbar, beeindruckte ihn sofort, jedoch hatten Materialschäden und menschliches Unvermögen im Laufe der Zeit deutlich ihre Spuren hinterlassen. Es war ein Baukunstwerk, das dringend saniert und restauriert werden musste. Der Eigentümer, ein am Rande des Bankrotts balancierender Geschäftsmann aus Neuss, der auf seinen am Markt vorbei produzierten Billigmöbeln sitzen geblieben war, bewohnte sie seit einem Jahr nicht mehr und hatte vorher zu wenig in ihren Erhalt investiert. Wegen mehrerer, von strengen Gutachten aufgedeckten Baumängeln, und weil er der einzige ernsthafte Interessent war, konnte Richard den Kaufpreis auf günstige 440000 Euro herunterhandeln.

      Sein Vater, ein vermögender Notar, für den Immobilienbesitz die beste Kapitalanlage war, schenkte ihm 250000 Euro, die ihm halfen, seine Vorstellungen zu verwirklichen.

      Die mit viel Aufwand restaurierte und modernisierte Villa wurde für Richard zum Zentrum seines Lebens, in dem Privates und Berufliches ineinander übergingen.

      Zusammen mit seinem Partner Axel Tiedeck verlegten sie ihr bereits florierendes Aachener Architekturbüro dorthin, was mit einem gewissen Werbeeffekt verbunden war. Im Erdgeschoss waren die Büroräume untergebracht, das Ober- und Dachgeschoss bewohnte Richard zusammen mit Iris, die hier, wie sie es damals nannte, ein aristokratisches Lebensgefühl bekam. Zuerst schmunzelte Richard darüber, doch dann bespöttelte er es.

      Die Denkmalschützer waren von der sich in neuem Glanz zeigenden Villa begeistert, lobten Richard wegen seines souveränen und zugleich vorsichtigen Umgangs mit historischer Bausubstanz. Sie nannten es ein Baudenkmal, das für Anfelden, das nicht gerade reich an schützenswürdigen Bauten sei, eine besondere Bedeutung habe. Schließlich verbuchten sie es als hervorragendes und vorbildliches Beispiel geglückten Denkmalschutzes, auch wenn sie kaum etwas dazu beigetragen hatten.

      Acht Jahre blieb die Villa das Zentrum seines Lebens. Er genoss es, dort zu wohnen und zu arbeiten. 24 Stufen ging er auf der sich bogenförmig durch den Raum schwingenden Treppe nach unten, um seinen Beruf auszuüben und auf demselben Weg nach oben kehrte er zu seinem Privatleben zurück. Das änderte sich, als Richard mehr Platz für sich und seine Familie benötigte. Er und Iris hatten beschlossen, ein Kind zu zeugen, wofür sie sich zu sexuellem Leistungssport animierten. Zwei Kinder waren eingeplant. Ihr Familienleben sollte nicht von Rücksichten oder Störungen beeinträchtigt werden, die mit dem im Erdgeschoss gelegenen Berufsalltag von Richard zusammenhingen. Es gab auch noch einen weiteren Grund, die Firma auszuquartieren.

      Richards Vater war infolge eines tragischen Irrtums bei der Wildschweinjagd erschossen worden. Er hinterließ ein beachtliches Vermögen und eine todunglückliche Frau. Anna verkraftete nicht, was passiert war, verlor ihren Elan, mit dem sie vorher andere mitreißen konnte. Sie fühlte sich ausgehöhlt, taumelte, wurde anfällig für seelische Abstürze. Richard, der sich Sorgen um seine Mutter machte, überzeugte sie davon, in die Villa zu ziehen, wo es Platz genug für sie gab. Dort lebte sie wieder auf, genoss menschliche Nähe und schwärmte noch mehr als zuvor von der Villa, bezeichnete sie als ihr kleines Schlösschen. Sie vermisste zwar weiterhin ihren Mann, den sie, wie Richard meinte, idealisierte, aber es gelang ihr immer besser, ohne ihn zu leben.

      Alles schien hier gut geregelt. Die Gegenwart bot Zufriedenheit und die Zukunft war kein Problem. Richard war stolz darauf, was er aus der Villa gemacht hatte. Ein Prachtbau, ganz auf seine Familie zugeschnitten, bestens geeignet für ein Mehrgenerationenhaus. Ein außergewöhnliches Zuhause für lange Zeit. Zum ersten Mal hing er an einem Gebäude. Seine Lebensfreude war damit verknüpft.

      Doch dann veränderte sich alles auf eine einschneidende Weise. Anfangs war es nur ein Gerücht. Richard spürte zwar Unbehagen, aber es stufte es als Schwarzseherei von zu misstrauischen Umweltschützern ein. Nein, das konnte gar nicht stimmen, dass der Braunkohlentagebau doch noch weiter als geplant vorrücken, Anfelden und damit sein Eigentum wegbaggern würde. Hatte die Energetik AG nicht stets beteuert, dass keine weiteren Tagebaue geplant seien? Und Politiker hatten es doch immer wieder bestätigt, Anfragen besorgter Bürger auf eine beruhigende Weise beantwortet. Doch dann stellte sich heraus, dass alle Verlautbarungen nur abgefeimte Täuschungsmanöver von Industrie und Politik waren, um die Menschen hinters Licht zu führen. Anfelden und noch acht weitere Ortschaften würden von der Landkarte verschwinden, ausradiert vom Braunkohlentagebau.

      Als sich das Gerücht bewahrheitete, fühlte sich Richard wie jemand, dem der Boden unter den Füßen entzogen wird. Er brauchte einige Tage, um sich wieder zu fangen und auf die nervenaufreibende Situation einzustellen. Es war für ihn eine einschneidende Lebenswende, so schmerzhaft, wie er es noch nie erlebt hatte. Jetzt war er selbst davon betroffen, was die bisherigen Opfer des Braunkohlentagebaus schon durchlitten hatten. Und wie ihr Leben, änderte sich auch sein Leben auf eine nicht für möglich gehaltene Weise. Zusammen mit den Einwohnern von Anfelden und den anderen vom Untergang bedrohten Ortschaften protestierte er anfangs heftig. Sie hielten anklagende Plakate hoch, gründeten Bürgerinitiativen, versammelten sich auf Großdemonstrationen, Umweltschützer ermutigten sie, wissenschaftliche Gutachten sicherten sie ab, ihr Rechtsempfinden ließ sie schließlich klagen. Juristisch gestützte Hoffnungen keimten auf. Sie fühlten sich im Recht.

      Doch sie scheiterten mit ihren Klagen vor Gerichten, wo ihre Menschenrechte von wirtschaftspolitischen Scheinargumenten ausgehebelt wurden.

      Sie hatten kein Recht auf ihre Heimat und auf ihr Eigentum, wurden dazu verurteilt, dem Tagebau zu weichen. Manchmal flammten Proteste wieder auf, doch nicht lange, dann lähmte sie ihre Machtlosigkeit.

      Es gab keine Gesetze, die sie schützen. Sie hatten das Gefühl, als wäre ihre Heimat Abfall, der entsorgt werden musste. Eine störende äußere Zivilisationsschicht, wertlos im Vergleich zu der angeblich Energiesicherheit garantierenden, konkurrenzlosen Braunkohle unter ihr.

      Es empörte sie und ekelte sie an, wie die katastrophale Ausbeutung von Braunkohle als energiepolitische Notwendigkeit zurechtgelogen wurde. Entmutigt von ihrer hoffnungslosen Lage, gaben sie ihren Widerstand auf, resignierten. Für sie war es ein verlorener Kampf nach einer kraftraubenden Zeit des Aufbegehrens.

      Ihre Ohnmacht hat viele die vom Unrecht diktierten Verträge zu früh unterschreiben lassen. Sie sind bereits Opfer einer flächendeckenden Erpressung geworden. Sie haben erschöpft aufgegeben, es nicht mehr geschafft, einen günstigeren Verkaufspreis für ihr Eigentum auszuhandeln. Sie sind Betrogene, ihre Schwäche haben zynische Mitarbeiter der Energetik AG kalt lächelnd ausgenutzt.

      Richard ist davon überzeugt, dass ihm so etwas nicht passieren wird. Die Phase, in der er gegen Einflüsterungen der Resignation ankämpfen musste, ist glücklicherweise vorbei. Er hat sich wieder im Griff. Es ist eine Herausforderung, der er sich gewachsen fühlt. Er wird sich, davon ist er überzeugt, immer mehr an diesen noch nie erlebten Ausnahmezustand gewöhnen und kompromisslos die höchste Entschädigung aushandeln. Zwar ist er auch ein Leidtragender des Braunkohleterrors, aber das darf sein Leben nicht verdüstern. Es rumort noch in ihm, er versucht, es weiter zu dämpfen. Warum sollte er sich davon noch aus dem Gleichgewicht bringen lassen? Schließlich bietet ihm das Leben noch genug, was ihm gefällt. Während er sich dem hier herrschenden Zwang beugt, plant er bereits für die Zeit nach Anfelden. Dann wird er wieder nach seiner Fasson leben. Er glaubt, dass er auf dem richtigen Weg ist.

      Heute Morgen fühlt sich Richard voller Elan. Er wundert sich über sich selbst. Als hätte er alles, was ihn belastet, von sich abgeschüttelt. Es fällt ihm leicht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Im Architekturbüro ist er in seinem Element. Zusammen mit Axel Tiedeck, seinem Partner, sitzt er vor einem großen Monitor, in dem sie gerade auf einem virtuellen Spaziergang ein Bauprojekt im Aachener Norden besprechen.

      «Wir sollten die Dachgeschosse noch etwas großzügiger gestalten. Mit tieferen Fenstern und breiteren Balkonen», schlägt Richard vor.

      «Also mehr Kosmetik als bauliche Veränderung», meint Axel schnell, bevor Richard weitersprechen kann.

      «Ja, auch. Axel, ich war noch nicht fertig. Was hältst du davon, wenn wir in allen Geschossen die Dielen verkleinern und dadurch die Wohnzimmer vergrößern. Ich finde, da haben wir noch Spielraum.»

      Axel