Ein Kerl! Und dann noch nicht einmal ein bekannter! Er verspürte einen Stich der Enttäuschung. Wer mochte das sein? Ein Sänger? Die selbstsichere Ausstrahlung dafür hatte der Mann auf jeden Fall. Nein, dafür war seine Körperhaltung viel zu selbstbewusst und zu vornehm. Beinahe königlich. Und wenn das gespielt war? Konnte das womöglich ein bekannter Schauspieler sein?
Der Mann war ausgestiegen und wartete nun darauf, dass der Junge mit dem Ausladen seines Gepäcks fertig wurde. Dabei schenkte er ihm jedoch keinen Blick, als wäre die Ausführung einer solch niederen Tätigkeit seiner Beachtung nicht wert.
„So ein reicher Schnösel!", dachte der Junge wütend. „Für den existiere ich gar nicht! Wahrscheinlich ist der es gewöhnt, von morgens bis abends bedient zu werden! Gehört wahrscheinlich zu der Sorte, die sich allein noch nicht einmal die Schuhe zubinden können!"
Er bemühte sich, seine Wut nicht zu zeigen. Nicht aus Angst, dass der andere sie sehen könnte, denn der ignorierte ihn weiter, sondern aus Angst, dass ein anderer Hotelangestellter seinen Mangel an Respekt bemerken könnte. Das wäre es dann mit seinem hart verdienten Taschengeld.
Derweil sah sich das Objekt seines Zorns in aller Seelenruhe um. Weder die großzügig angelegten Gartenanlagen noch die imposante Hotelfassade mit ihrer eindrucksvollen Freitreppe entlockte ihm eine Geste der Anerkennung.
Für die nächsten paar Tage würde er es hier notfalls schon aushalten können, dachte Julien. Langsam erklomm er die breiten Stufen der Freitreppe. In Gedanken versunken bekam er weder mit, dass der Junge das letzte seiner Gepäckstücke auf dem Gepäckwagen verstaut hatte und sich nun beeilte, ihm auf der langen Rampe zu folgen, noch dass seine Limousine Anstalten machte, das weitläufige Hotelgelände wieder zu verlassen.
In der Eingangshalle angekommen, gestattete sich Julien einen Augenblick lang, die Szenerie zu betrachten. Sein Blick erfasste flüchtig die beiden Geschäftsmänner in den dunklen Anzügen, die es sich in ihren breiten Sesseln bequem gemacht hatten und genüsslich ihre Zigarren pafften, was ihre Nachbarin, eine Frau von Anfang vierzig in einem schicken Kostüm, sichtlich irritierte. Abgesehen von den beiden Männern war sie die einzige Person in der Hotelhalle. Julien ließ den Blick kurz auf ihr verweilen und entschied dann, dass sie seiner Beachtung nicht wert war.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ihn eine angenehme Stimme.
Julien hatte den Eindruck, als würde sie schnurren wie eine Katze, so seidenweich war diese Stimme. Er drehte sich um, um ihre Besitzerin in Augenschein zu nehmen. Was er sah, gefiel ihm gut. Mit ihren langen, blonden Haaren, ihren meergrünen Augen, dem sinnlichen Mund und den langen, schlanken Beinen gehörte die Mitzwanzigerin zu den schönsten Frauen, die Julien je gesehen hatte. Und er hatte in seinem Leben schon eine Menge schöner Frauen gesehen. Ja, hier konnte er es eine Zeit lang aushalten!
Julien schenkte ihr ein Lächeln, das selbst George Clooney oder Brad Pitt neidisch gemacht hätte und das seine Wirkung sichtlich nicht verfehlte. Das Lächeln der jungen Frau wurde etwas unsicherer. Schüchtern sah sie den neuen Hotelgast an.
„Das will ich doch hoffen“, entgegnete Julien. „Und die Aufgabe sollte für Sie auch nicht unlösbar sein, denke ich, Miss ...?" Er hob fragend die Augenbrauen und lächelte sie ein weiteres Mal an.
„Miss Carpenter“, entgegnete die junge Frau. Und als Julien sie weiterhin fragend ansah, fügte sie hinzu: „Miss Julia Carpenter.“ Sie streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. „Willkommen im Palace, Sir.“
Julien ergriff ihre zierliche Hand mit einer fließenden Bewegung. „Mein Name ist Julien“, stellte er sich vor, „und ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Julia.“
Er lächelte sie strahlend an, bevor er ihre Hand an die Lippen führte und küsste. Als er an der leichten Röte ihrer Wangen sah, dass diese Geste den erhofften Effekt gehabt hatte, ließ er ihre Hand wieder los. Ob er etwas sagen sollte? Nein, lieber nicht. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Frauen es nicht schätzten, wenn ein Mann zu direkt vorging. Frauen wollten umworben werden. Das alles war ein Spiel, das Zeit erforderte, was Julien aber nicht im Mindesten störte. Das Umwerben und die langsame Eroberung bildeten für ihn den größten Reiz an der Sache.
Immer noch freundlich lächelnd, fuhr er im normalen Gesprächston fort: „Ich habe gestern mit Ihrem Kollegen telefoniert und eine Suite reserviert. Ich hoffe, es ist nicht ungelegen, dass ich etwas früher gekommen bin als angekündigt.“
„Nicht im Geringsten, Sir“, erwiderte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen professionellen Klang zu geben. Sie blätterte in ihrem Notizblock, um etwas Zeit zu gewinnen. „Hier steht es ja. Wir haben für Sie die Präsidentensuite reserviert. Von dort haben Sie eine wunderbare Aussicht auf den Lake. Ihre Wünsche wurden natürlich berücksichtigt. Ich hoffe, dass alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit ist.“ Julia schenkte ihm nun ihrerseits ein Lächeln. „Falls nicht, zögern Sie bitte nicht, es mir mitzuteilen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Palace.“
„Danke.“
Julia winkte Jack, den jungen Hotelpagen, heran. „Jack, würdest du dem Herrn bitte seine Suite zeigen? Der Herr bewohnt die Präsidentensuite.“
„Aber natürlich“, sagte Jack. Er wies mit der Hand zum Fahrstuhl. „Wenn der Herr mir bitte folgen würde.“
Er wartete, bis Julien sich in Richtung Fahrstuhl aufgemacht hatte, um ihm langsam mit dem Gepäckwagen zu folgen. Trotz seiner Äußerung wäre es äußerst unhöflich, tatsächlich vorauszugehen. Als Hotelpage hatte er dem Gast in angemessenem Abstand zu folgen und diskret Richtungshinweise zu geben. Wie sah es denn aus, würde er mit dem Gepäckwagen vorangehen und der Gast dahinter, als wäre dieser ein folgsames Hündchen!
Aber noch nie zuvor war Jack versucht gewesen, die Schritte zu beschleunigen und vor dem Gast beim Fahrstuhl zu sein. So ein reiches Muttersöhnchen! Er hatte doch nie die Zeitung austragen oder das Geschirr abwaschen müssen, um sich sein Taschengeld zu verdienen, geschweige denn im Hotel seines Onkels als Page arbeiten müssen! Ob er sich überhaupt vorstellen konnte, wie hart Jack arbeiten musste, um sich den Traum vom eigenen Auto erfüllen zu können? Wahrscheinlich hatte er zum bestandenen Führerschein gleich einen Ferrari von Papi geschenkt bekommen!
Jack bemühte sich, seine Wut zu zügeln, und beschleunigte seine Schritte. Inzwischen war Julien am Fahrstuhl angekommen und wartete auf den Jungen, ohne sich nach ihm umzusehen. Jack drückte den Knopf und der Fahrstuhl kam. Als die Türen aufgingen, hatte Julien Jack noch immer keinen Blick gegönnt, geschweige denn das Wort an ihn gerichtet, um ein wenig mit ihm zu plaudern.
Im Fahrstuhl hatte Jack Gelegenheit, den anderen zu betrachten. Alles an dem Kerl stank nach Kohle, die teuren Schuhe - wahrscheinlich maßgefertigte, italienische Designerschuhe, dachte Jack, doch damit kannte er sich nicht so aus -, der elegante, weiße Anzug, die goldene Uhr. Doch es war nicht diese Zurschaustellung von Reichtum, die Jack so aufregte. Sollte der Schnösel doch ruhig seine schicken Klamotten und die Rolex behalten! Nein, was ihn störte, war diese unglaubliche Arroganz, die aus seiner Haltung und jeder seiner Bewegungen sprach. Dieser Mann war es gewohnt, auf seine Mitmenschen herabzusehen. Und Jack hasste ihn mit jeder Sekunde mehr.
Oben angekommen ließ Jack den Gast als Erstes aussteigen und wartete ungeduldig. Julien wandte sich nach links, während Jack schwieg. „Falsche Richtung, du Idiot!“, dachte er hämisch. Er hatte nicht vor, den Kerl über seinen Irrtum aufzuklären, sondern bog in aller Ruhe mit dem Gepäckwagen nach rechts ab.
Julien hatte schon zehn Meter zurückgelegt, als ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Er hörte den Gepäckwagen nicht hinter sich! Wo war der Junge?
Er drehte sich um. Der Junge ging in die entgegengesetzte Richtung, hielt vor einer Tür, holte einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete die Tür, ohne sich um ihn zu scheren.
So eine Frechheit! Julien schäumte vor Wut.