5 DENK DICH DÜNN
In seinem Positivheim angekommen, schwang sich Stefan auf seinen Positivsessel. Aber er dachte jetzt nicht positiv, sondern er dachte nach; genau genommen dachte er nach, wie er durch Positives Denken abnehmen könnte: Sicher, klar, natürlich, ich muss mich in Gedanken dünne machen, nur wie schaffe ich dieses "mich Verdünnen"?
Etwas zerstreut blätterte er in der "Hör Zu". Zufällig schlug er die Seite mit dem Radioprogramm auf. Und zufällig entdeckte er, dass dort die Sendung "Denk dich dünn!" abgedruckt war. Und zufällig begann die Sendung gerade in zehn Minuten. Übrigens sollte sie laut Programm auch nur zehn Minuten dauern. Das konnte nun kaum auch noch Zufall sein. Vielmehr war es erstaunlich, dass ein so schwergewichtiges Thema wie das Dicksein in so kurzer bzw. dünner Zeit abgekocht werden sollte. Aber Stefan nahm das als gutes Omen, denn „nomen est omen“. Vielleicht wurde ja die Dünnleibigkeit am besten durch eine dünne Sendung bewirkt.
Schon mit den ersten Worten gewann der Sprecher seine Sympathie: "Vergessen Sie alles über Diäten, Hunger und Selbstquälerei. Mit dem Positiven Denken nehmen Sie völlig mühelos ab, ohne Eßdisziplin aufbringen zu müssen." Stefan atmete erleichtert auf. Denn im Laufe der Jahre hatte er schon manche Diät versucht, vor allem die Punkte-Diät, eine sogenannte Super-Diät, sogar die Liz-Taylor-Diät. Alle diese Hungerkuren führten zu keinem dauerhaften Erfolg: Entweder er hatte sich eine Weile an die Diätrichtlinien gehalten und trotzdem kaum abgenommen.
Oder er hatte die Diät schon nach einigen Tagen nicht mehr ausgehalten, einmal bereits nach einigen Stunden, und da war natürlich gar nichts mit Abnehmen. In einem Fall hatte er sogar unter der Diät zugenommen, allerdings aß er damals auch die Diätkost - einen schrecklich faden Weizenbrei - zusätzlich zu seiner Normalkost. Jedenfalls schien sich die alte Weisheit zu bestätigen: Schmeckte etwas gut, machte es dick. Und machte es dünn, schmeckte es schlecht.
Aber mit der Methode "Denk dich dünn" würde das alles anders werden. Wie er hörte, könnte man einfach durch entsprechende Gedankenbefehle an Gewicht verlieren, weil weniger Nahrung resorbiert und mehr Körperfett abgebaut würde - Stefan war begeistert. Außerdem ließe sich so der Appetit erheblich reduzieren, ohne jedes Hungergefühl - Stefan war weniger begeistert. Also musste er doch weniger essen. Aber gut, wenn dies wie von selbst geschah, ohne Verzicht, sollte es ihm recht sein. Das Grundmotto der Sendung lautete: "Du bist, was du denkst."
Denkst du positiv, dann bist du auch positiv. Denkst du, ein Gewinner zu sein, dann bist du es auch. Denkst du an Erfolg, dann bist du auch erfolgreich. Und bezogen auf das Gewicht: Denkst du, du bist dünn, dann bist du auch oder wirst jedenfalls dünn. Kurz und bündig: "Denkste dünn, dann biste dünn."
Stefan war mal wieder etwas skeptisch. Das hatte er auch schon anders gehört: "Du bist, was du tust", "Du bist, was du willst" oder vor allem "Du bist, was du isst". Und dieser letzte Spruch schien ihm gerade beim Körpergewicht überzeugender: Isst man wenig, so ist man auch wenig. Soll heißen, man ist vom Gewicht her wenig, wiegt wenig. Aber wie schon öfters wischte er seine Zweifel beiseite. Denn er wusste ja: Wenn er nicht an das Positive Denken glaubte, dann half es ihm auch nicht. Lieber lauschte er weiter. Der Sprecher nannte zwei entscheidende Maßnahmen:
Erstens sich vorzustellen, ganz dünn zu sein, "wie ein Strich in der Landschaft". Zweitens sich einzureden, überhaupt keinen Hunger zu haben: "Sie kennen das Wort 'Hunger' gar nicht mehr." Nun gut. Stefan begann sich vorzustellen, wie er dünn aussähe: schlank, mager-hager, wie eine männliche Twiggy. Richtiger gesagt, er versuchte, sich das vorzustellen. Denn auf rätselhafte Weise entstanden vor seinem inneren Auge gerade die umgekehrten Bilder. Er "sah" sich dicklich, schwabbelig, pausbäckig. Und je mehr er seine Phantasie drängte, "dünne Bilder" zu produzieren, um so mehr wuchsen sein Bauch und seine Hamsterbacken. Stefan versuchte daher, sich erst einmal andere dünne Menschen vorzustellen. Spontan fiel ihm Stan Laurel, der den "Doof" verkörperte, ein, der war wirklich gertenschlank. Aber als er ihn visualisieren wollte, erschien stattdessen der beleibte Oliver Hardy, der "Dick", auf seiner inneren Leinwand.
Was tun? Wahrscheinlich musste er die "Dünn-Denk-Aufgabe" in mehrere Schritte zerlegen, sich in der Phantasie ausmalen, wie er Stück für Stück, Kilo für Kilo an Gewicht abnahm. Dafür bot sich geradezu zwingend die Geschichte vom Suppenkaspar an, deren Bilder in dem Buch "Struwwelpeter" er aus der Kindheit noch lebhaft vor Augen hatte. Erst sah der Suppenkasper reichlich fett aus (damals hielt man das allerdings für gesund und schön), dann nahm er in mehreren Etappen fast bis zum Null-Gewicht ab. Natürlich wollte Stefan nicht so weit gehen, aber es konnte doch wohl nicht schaden, in der Phantasie ein wenig zu übertreiben, damit seine hartnäckig dicklichen Vorstellungen überhaupt anfingen abzuspecken. "Nein, meine Suppe ess' ich nicht", murmelte Stefan.
Und auf einmal funktionierte es, und wie! Er sah sich mit seinem inneren Auge abnehmen, beinahe in Zeitraffer. Gerade noch wohlgenährt, war er mit einmal abgemagert, klapperdürre, mit eingefallenen Wangen und hervorstehenden Knochen, um die seine Kleider schlotterten. Stefan erschrak: Der letzte Vers aus dem "Suppenkaspar" fiel ihm ein:
"Am vierten Tage endlich gar
Der Kaspar wie ein Fädchen war.
Er wog vielleicht ein halbes Lot -
Und war am fünften Tage tot."
Eine schreckliche Angst überkam Stefan, eine existentielle Angst, eine Angst zu verhungern. Und da erwachte plötzlich ein wahrer Heißhunger in ihm. Bloß nicht das noch! Schnell ging er zu der zweiten Methode über und sagte zu sich: "Ich bin nicht hungrig, ich bin nicht hungrig!" Von wegen. Vor seinem geistigen Auge entstand ein monumentales Essens-Gemälde, ganze Landschaften aus kulinarischen Köstlichkeiten: verführerisch duftende, süße Früchte aus aller Herren Länder; zartes, rosiges, fein marmoriertes Fleisch in einer exquisiten sahnigen Sauce, serviert auf edlem Porzellan; daneben kostbare Silberschalen, gefüllt mit delikaten frischen Salaten oder überquellend von exotischen bunten Gemüsen; nicht zu vergessen phantastische Dessertkompositionen aus Eis, Sahne und erlesenem Gebäck.
Stefan schwindelte. "Ich bin nicht hungrig, ich bin nicht hungrig!" schrie er. Aber die Ess-Phantasien waren stärker. Und hatte er zunächst nur die Schlemmereien allein gesehen, so sah er jetzt sich selbst, wie er all diese herrlichen Speisen aß, nein futterte, nein in sich hinein schlang. Schließlich ging es zu wie im Schlaraffenland: Braun gebratene Täubchen flogen ihm direkt in den Mund, dann labte er sich an Flüssen von Milch und Honig. Die Bilder waren so lebendig und eindringlich, fast wie Halluzintionen.
Vergeblich versuchte er, ein Bollwerk der Gedankenkontrolle aufzubauen, es wurde überschwemmt, ja weggeschwemmt von den Ess-Bildern, aber auch von immer drängenderen Ess-Gelüsten. "Ich bin nicht hungrig, ich bin nicht hungrig!" Noch einmal bäumte er sich verzweifelt auf, dann ergab er sich. Jetzt war es ihm egal. Er ging, nein rannte zum Kühlschrank und plünderte ihn gnadenlos. Zwar enthielt der keineswegs solch’ erlesene Leckerbissen wie in der Phantasie gesehen, sondern ganz gemeine Fressalien. Statt edelstem Fleisch gab es etwa pappige Frikadellen, statt einem exotischen Gemüsepotpourri Brechbohnen aus der Büchse. Aber was machte das?! Hauptsache, er wurde satt und die Suppenkaspar-Angst verschwand. Konnte er kein Gourmet (Feinschmecker) sein, dann wenigstens ein Gourmand (Vielfraß). Zwischendurch mümmelte er mit vollem Mund weiter: "Ich bin nicht hungrig, ich bin nicht hungrig."
Aber das war nur noch eine inhaltsleere Beschwichtigungsformel, richtiger hätte er "guten Appetit" sagen können. Daran haperte es ihm wahrlich nicht. Er begann das große Fressen mit den Papp-Frikadellen, auf die er Erdbeermarmelade schmierte - eigentlich hätte es Ketchup sein sollen; dann aß er einen Sahnequark - "ich bin nicht hungrig, ich bin nicht hungrig" - und verschlang die Brechbohnen. In seiner Angst verschmähte er auch nicht eine Packung Knäckebrot, danach bezwang er einen halben Camembert - den er besser mit dem Knäckebrot zusammen gegessen hätte. Den Abschluss bildeten eine