Mit einem Raubtierblick, der jede Bewegung seines Opfers mit einem inneren Angriffsplan abgleicht und diesen gegebenenfalls auf eine günstigere Gelegenheit verschiebt, macht Zach eine lässige Entlassbewegung. Während Feldkamp zum Behelfsflugplatz geleitet wird, führt Zach ein Ferngespräch. Einer seiner Bodyguards hält das Handy an Zachs Ohr:
„Nein, er lehnt alles ab – ja, die übliche Jesus-Christus-Moral“, sagt Zach hustend. „ja, das volle Programm, wie abgesprochen – nein, ich werde mich selbst um Pergola kümmern.“
Absturz
Als Feldkamp am Montagmorgen, dem 23. Januar, den Haupteingang des Ignaziuskrankenhauses betritt, begrüßt er wie immer Frau Schmidt an der Pforte mit Handschlag. Pforte und Lager sind extraterritoriale Gebiete in einem Krankenhaus. Die Pforte ist die Nabelschnur zur Realwelt, der Lagerist deren Zwischenhändler. Ohne diese beiden hängt ein leitender Arzt ziemlich in der Luft.
„Guten Morgen, Herr Doktor!“, lächelt die Schmidt etwas gezwungen. „Schön, dass Sie wieder im Lande sind.“
Seine Sekretärin Erna Mahler ist seine Nabelschnur zur Klinikwelt. Alles, was die Klinik betrifft, erfährt er von ihr. An der Mahlerin gehen weder Tratsch noch Gerüchte vorbei. Sekretariate sind Sammelbecken von Gerüchten, und Gerüchte bedeuten Macht. Der Trichter aller Klinikgerüchte ist die Röntgenabteilung, weil dort jeder Patient irgendwann einmal durchmuss und sich das Personal dort erfahrungsgemäß trifft. Frau Mahler pflegt deshalb ihre Verbindungen nach dorthin.
„Guten Morgen, Chef. Die Geschäftsleitung will Sie unbedingt sehen. Ich glaube, da braut sich was zusammen“, begrüßt sie ihn besorgt.
„Ach, sicher wegen des ausländischen Mädchens, das ich ohne Kostenübernahmegarantie operiert habe. Ginge es um die eigene Tochter von diesen Kerlen, spielten Kosten keine Rolle“, brummt er.
Seine drei Tage auf der Bühne des Leids von Fordo rücken mit jeder Minute in weitere Ferne. Der beste Schwamm für ein schlechtes Gewissen sind die Pressionen des Alltags.
Doch es geht nicht um die Operation vom Donnerstag. Das ahnt er sofort, als er im Konferenzraum Geschäftsführer Koenig mit dem Personalchef und dem Hausjuristen trifft, die auf ihn warten. Koenig begrüßt ihn so warm, als freue er sich auf einen Leckerbissen.
„Herr Doktor Feldkamp, schön, dass Sie wieder im Lande sind.“
Hatte ihn die Schmidt nicht ähnlich begrüßt? Feldkamp ist auf der Hut.
„Wo waren Sie denn seit Donnerstag 13 Uhr 30?“, fragt Koenig lauernd.
Feldkamp dämmert, dass Thor und Zach ihn belogen haben. Hier ist niemand von seinem Fernbleiben benachrichtigt worden. Wieder einmal von Zach gelinkt, denkt er. Das letzte Mal, als er gelogen hatte, ist es mächtig schiefgegangen. Man sollte beim Lügen möglichst nahe bei der Wahrheit bleiben. Also antwortet er:
„Ich, äh, habe in Algier eine Notoperation durchführen müssen.“
„In Algier?“, ruft Koenig, der sichtlich ein glucksendes Lachen unterdrückt. „Und Sie haben es nicht für nötig befunden, eine Erlaubnis dafür einzuholen? Oder Ihren Arbeitgeber von Ihrer Abwesenheit – die er ja bezahlt – wenigstens zu benachrichtigen?“
„Ich dachte, das hätte man für mich erledigt.“
„Um bei Ihrem unbestimmten man zu bleiben: Das nennt man unerlaubtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz“, schaltet sich Dr. Müller, der Hausjurist, ein. „Das schon wäre ein Grund für eine Abmahnung. Aber da kommt ja noch einiges hinzu. Sie haben ein viertausend Euro teures Operationsset aus unserem Operationsbestand entwendet. Aufgrund dieses fehlenden Operationssets konnte am Freitag ein Patient nicht operiert werden und musste in die Uniklinik verlegt werden. Dadurch entgingen dem Haus über 14.000 Euro Einnahmen, von der Rufschädigung durch eine unnötige Patientenverlegung in ein Konkurrenzkrankenhaus ganz abgesehen. Was ist Ihre Meinung dazu?“
„Ich, ähm, habe einem Menschen helfen wollen.“
„Sie haben einem Menschen helfen wollen!“, lacht Koenig sarkastisch und lässt sich mit ausgebreiteten Armen zurück in seinen Chefsessel fallen. „Sie helfen einem Menschen in einem Land, das man keinesfalls als Mitglied der Staatengemeinschaft betrachten kann? Hat nicht jemand Algerien als die Achse des Bösen bezeichnet?“
„Das war George W. Bush und es war nicht Algerien, sondern der Iran“, sagt Feldkamp leise. „Aber einem Menschen ist es egal, unter welcher Achse er liegt. Hauptsache, jemand zieht ihn da hervor.“
„Oh, wir kennen Ihre altruistische Einstellung. Aber von Ihrer poetischen Ader haben wir nichts gewusst. Sie können sich das leisten. Wir, das Krankenhaus, nicht“, ruft Herr Koenig.
„Es tut mir leid, wenn ich das gewusst hätte ...“, sagt Feldkamp kleinlaut. Er hat noch niemals einen Menschen gehasst. Er wird es auch jetzt nicht, nimmt er sich vor. Er blickt an Koenig vorbei, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Natürlich hält er sich für den besseren Geschäftsführer. Jeder Arzt tut das, so wie sich jeder Wähler für den besseren Kanzler hält.
„Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel“, presst er hervor.
„Von Ihnen oder von wem?“, fragt Koenig grinsend. „Beschuldigen Sie wieder einmal die Verwaltung? Sagten Sie nicht am Donnerstag im OP ‚Wenn es um Geld geht, ist die Verwaltung schnell wie der Wind. Folge in der Medizin dem Geld und du stößt auf Verantwortungslosigkeit‘? Sieht so Ihre Solidarität mit Ihrem Arbeitgeber aus?“, schreit Koenig, dessen Erregung auf Feldkamp irgendwie künstlich wirkt.
Feldkamp schluckt. Er ballt die Fäuste, das Hemd wird ihm eng, er ringt nach Luft und am liebsten will er weg von hier. Er schließt die Augen und sieht sich auf dem Fahrrad sitzen und nach irgendwohin fahren. Am liebsten dorthin, wo es keine Juristen und Geschäftsführer gibt. Am besten keine Spuren hinterlassen. Geld in bar mitnehmen, damit man keine Abhebungen machen muss, die den Aufenthaltsort verraten.
Da kann nur ein großes Komplott dahinterstecken. Er hat Zach doch nur helfen, einen Freundschaftsdienst leisten wollen. Nicht einmal Geld hat er dafür verlangt. Einzig die Zusicherung, er bekäme für diese Hilfe keine Probleme mit seinem Arbeitgeber, hat ihm für ein bedingungsloses Ja zur Hilfe gereicht. Weshalb lässt Zach ihn jetzt hängen? Für die Hinwendung zum Nächsten hat Feldkamp selten Lohn bekommen, aber Nachteile auch nicht. Feldkamp beneidet die Gläubigen. Auf die wartet der Lohn im Paradies, ein Gerücht selbst für die, die dort wohnen.
Feldkamp schweigt. Er hätte es wissen müssen. Sie haben seine Abwesenheit genutzt und alles gesammelt, was gegen ihn verwendet werden kann. Wie hat er nur so dumm sein können und meinen, fachliches Können allein sei in einer Klinik ausreichend!
„Sie werden verstehen, dass es für uns nur eine Konsequenz geben kann. Wir müssen Sie fristlos freisetzen“, sagt Dr. Müller. Er hat seine Tonlage etwas heruntergeschraubt.
Freisetzen. Freisetzen? Freisetzen!
Das Entsetzen lässt Feldkamps Gedanken beinahe sichtbar zur Decke steigen. Freisetzen, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, alles Euphemismen für du bist gefeuert!, denkt Feldkamp fassungslos. Ist es das, was er selbst wollte, ist es das, was Koenig wollte? Plötzlich sieht er sein Abhauen aus der Realität, sieht er eine Fahrradfahrt nach irgendwohin in anderem Licht. Gar nicht mehr heroisch, gar nicht mehr befreiend, jetzt, da er freigesetzt ist. Wo bleiben dann die Einkünfte, um Tankreds Spielschulden zu bezahlen, was wird seine Frau meinen, wenn sie ihre Ansprüche noch mehr einschränken muss? Vor zwanzig Jahren hat sie Zach für ihn verlassen und vergleicht ihn seither beinahe täglich mit ihm.
„Sie können natürlich Widerspruch einlegen“, sagt Dr. Müller nachsichtig, weil er Feldkamps inneres Drama ahnt. „Dann müsste in einer Gerichtsverhandlung Ihre Beziehung zu einem international fragwürdigen Land offengelegt werden. Womöglich wird man von Ihnen den Namen des von Ihnen Operierten wissen wollen. Womöglich