Der Schacht zur Kugel wird verschüttet und Zach von den Füßen gerissen. Steine fallen auf ihn, quetschen sein Gesicht, seine Hände. Doch er kann noch atmen. Die Stahltüre zur Kugel hält stand. Gut! Er drückt auf den Türöffner. Er will hinein, hinein und Schutz suchen vor dem Inferno. Langsam, viel zu langsam öffnet sich die Panzertüre.
Zach kriecht zur Öffnung. Schneller! Schneller! Steine prasseln um ihn herum auf den Fliesenboden. Kacheln springen hoch, zerschneiden mit scharfen Kanten Zachs Rücken. Auf den Ellenbogen zieht er sich aus den Steintrümmern heraus und dem stählernen Raum entgegen. Darin, auf einem Podest in der Mitte, die fußballgroße Kugel, umgeben von indirekt beleuchtetem Stahl. Sieht aus wie der heilige Gral in einer Vitrine aus Panzerglas. Unmittelbar auf der Oberkante der Panzertüre zerspringt ein riesiger Steinbrocken in zwei Hälften, die eine Hälfte kracht zersplitternd in den Stahlraum, die andere fällt ungebremst auf Zachs Genick.
***
Sofort schaltet das Bild auf die Bordkamera der Drohne um. Von oben sieht Nelly van Eid, wie sich der Tunneleingang leicht anhebt und wieder zusammenfällt. Eine Staubwolke markiert den Ort der Katastrophe.
„Boden-Luft im Anmarsch – eins, zwei … fünf!“
„Was soll das?“, hört man Lester schreien.
„Drohne ist erfasst! Sie haben uns …“
„Ablenkwaffen, los, los, los!“
„Ablenkwaffen abgeschossen. Nur drei folgen ihnen … Shit! Shit! Shit!“
Die Monitore werden weiß und die hämmernden Schreie zu einem elektronischen Brummen in der Stille.
***
Dr. Harry Feldkamp durchpflügt seinen Operationssaal mit breiter Brust in der Manier eines Schlachtschiffes. Das ist sein üblicher Auftritt, den er vor schwierigen Operationen so stimulierend findet. Doch während der Operation ist er so sorgfältig wie ein Minensuchboot.
Die Welt um ihn herum steht still, als er mit einer gebogenen Kornzange die Drainage in den winzigen Subduralraum der kindlichen Halswirbelsäule legt. Der Abszess kann jetzt abfließen, das Halsmark ist entlastet, das Kind gerettet. Doch er wird sich den Vorwürfen der Geschäftsführung stellen müssen. Einmal mehr hat er an einem Flüchtlingskind eine schweineteure Operation ohne vorherige Kostenabklärung vorgenommen.
Nur langsam dringt das aufgeregte Flüstern und Nesteln um ihn herum in sein Bewusstsein. Das Flüstern wird zu Stimmengewirr mit Clogs, die auf dem Fliesenboden klappern.
„Herr Doktor, entschuldigen Sie, aber da draußen steht ein Mann, der Sie unbedingt sofort sprechen will. Entschuldigen Sie, aber ich kann …“
Feldkamp überprüft noch einmal die Funktion der Drainage und nickt seinem Oberarzt zu, die Halswunde schichtweise zu verschließen. Er fährt mit dem Unterarm über seine überanstrengten Augen und fragt:
„Ich habe Sie nicht richtig verstanden. Was …“
Feldkamp wird von einem unverschämten Hämmern an der OP-Türe unterbrochen. Durch das Fenster hindurch sieht er ein wütendes Gesicht und eine Hand, die ihn auffordert, endlich nach draußen zu kommen.
„Wenn es um Geld geht, ist die Verwaltung schnell wie der Wind“, nickt er der OP-Schwester zu und sagt mehr zu sich selbst: „Folge in der Medizin dem Geld und du stößt auf Verantwortungslosigkeit …“
Doch es ist niemand von der Verwaltung – es ist Thor.
Als Feldkamp mit blutbespritztem OP-Mantel vor ihm steht, ist sogar der Mann, der mit vier Schüssen fünf Männer töten kann, für einen Moment beeindruckt.
„Du kennst mich noch?“, fragt Thor mit deutlichem norwegischem Akzent. Im intensiven Blau seiner Augen scheint sich sein grüner OP-Mantel widerzuspiegeln und eine andere Farbe anzunehmen, findet Feldkamp.
„Du kannst immer noch nicht richtig Deutsch?“, stellt Feldkamp fest.
„Kannst du Norwegisch?“
Nein, in den achtundzwanzig Jahren seit ihrem letzten Zusammentreffen hat er kein Norwegisch gelernt. Damals waren sie beide etwa neunzehn Jahre alt. Feldkamp befreit sich von der OP‑Kleidung und zieht den weißen Kittel über sein verschwitztes Unterhemd. Dann wäscht er seine Hände, um den Handschuhgeruch loszuwerden. Merkwürdig, Feldkamp hat inzwischen eine anerkannte Position in der Gesellschaft errungen, dennoch fürchtet er sich immer noch vor Thor. Selbst hier, am Rande des sterilsten Ortes der Zivilisation, trägt der Kerl einen Pistolenhalfter unter der linken Schulter, wie Feldkamp unschwer an der Ausbuchtung feststellen kann.
„Die Israelis haben Fordo zerbombt und Wolfgang Zach ist schwer verletzt. Du musst ihm helfen.“
Das Wasser, das über Feldkamps Hände läuft, wird immer wärmer, doch er bemerkt es nicht.
Zach!
In einem Nu fühlt er die weiche Haut der Mädchen um Zach, die auch seine Nächte hin und wieder verschönerten. Er spürt noch die Demütigung des Seitensprungs seiner Frau Pergola mit Zach. Er meint den aasigen Geruch der Leichenfelder von Basra im Ersten Golfkrieg zu riechen, als sie für fünfzig Dollar pro Leiche Saddam Husseins Soldaten von den Schlachtfeldern kratzten. Damals waren sie gerade mal neunzehn Jahre alt gewesen. Er hört noch das Hämmern seines Pulses, als er Zachs Spionagetätigkeit für den Iran entdeckte.
Das Einsammeln der Toten war für Zach nur Tarnung gewesen, damit er einen Peilsender an dem russischen Flugplatz von As-Shoibiyah anbringen konnte. Innerhalb einer halben Stunde hatte daraufhin die iranische Luftwaffe vierzig MiG-21 am Boden zerstört. Seither steht Zach so breitbeinig auf der Weltkugel wie ein Stier nach einer gewonnenen Corrida.
Feldkamp zuckt zusammen, weil das heiße Wasser seine Haut verbrüht. Er trocknet die Hände ab und zieht seine Rolex an. Diese Uhr ist ein Geschenk seiner Frau Pergola und der einzige Luxus, den er sich gönnt. Thor zieht derweilen etwas aus einer Aktentasche, Zachs Röntgenbilder. Einen Moment lang hat Feldkamp mit einem Sturmgewehr gerechnet .... Feldkamp pfeift beeindruckt, als er Zachs Halswirbelsäule im Durchlicht der Deckenbeleuchtung begutachtet. Es sind die typisch schlechten Bilder eines mobilen Röntgengerätes, doch er erkennt den mehrfach gebrochenen sechsten Halswirbelkörper. Der das Halsmark komprimiert.
Dekompressionssystem und gleichzeitiger Wirbelkörperersatz mit vorderer Verplattung, geht es ihm durch den Kopf.
Zach hatte ihn immer gelinkt! Ihm zu helfen, heißt einen Skorpion zu melken. Doch Feldkamp ist unfähig, sich von der Not eines anderen abzuwenden, und so sagt er:
„Okay, mache ich.“
Gleichzeitig fallen ihm tausend Gründe ein, warum er nicht zustimmen sollte. Beurlaubung durch die Verwaltung, Operationsset und Wirbelkörperprothese, Pergola benachrichtigen, Unterkunft – und vieles mehr.
Doch Thor beruhigt ihn. „Erledigen meine Mannen“, sagt er. „Officially, du machst einen Vortrag in Algier …“
Feldkamp packt die notwendigen Utensilien zusammen und folgt Thor. Tatsächlich fliegen sie mit einer Cessna zuerst zum Gewerbepark Breisgau bei Freiburg. Dort steigen sie um in Didis moderne Piper Meridian.
Didi Maier!
Didi ist ebenfalls ein Schulfreund aus jener verhängnisvollen Klassengemeinschaft – Zach, Didi, Feldkamp, ein Bundestagsabgeordneter, zwei Winzer und viel zu viele, die sich inzwischen bei den Anonymen oder bekennenden Alkoholikern treffen.
Aber Didi