Von hier aus fliegen sie nach Algier, checken dort offiziell aus und sofort wieder ein, um nach einer langen Schleife endlich auf einer Behelfslandebahn bei Fordo im Iran zu landen. Um sie herum herrscht Chaos. Schreiende, schwerverletzte Menschen werden aus einem Bergwerkstollen getragen. Es riecht nach Blut, verbranntem Fleisch, Kot und Urin, es riecht nach Basra.
„Davon berichten westliche Medien nichts. Passt nicht ins ideologische Bild“, sagt Thor, dessen langes blondes Haar wild im Abendwind weht.
Er führt Feldkamp zu einer größeren Holzbaracke. Die Wüstenluft auf der Hochebene ist dünn und abendkühl. Man merkt dem Abendwind an, dass der Tag heiß gewesen ist. Davon merkt man nichts innerhalb der behelfsmäßigen, zu einer Krankenstation umgebauten Baracke. Hier ist es stickig, und als Thor ihn zum einzigen Bett führt, erkennt Feldkamp den glatzköpfigen Mann mit den vielen Pflastern und Verbänden zuerst nicht. Erst als dieser die Augen öffnet und die eng beieinander liegenden Raubtieraugen zu sehen sind, erkennt er Zach.
„Du bist alt geworden und du riechst auch anders“, krächzt Zach. Sein spöttischer Blick taxiert Feldkamp, als halte er ihn für ein übel riechendes Stinktier.
„Im Alter riecht alles anders: Schweiß, Kot, Urin und Sperma“, nickt Feldkamp schmallippig. Er steht steif und mit zusammengekniffenem Hinterteil vor Zachs Bett und wünscht sich weg von hier.
„… und Sperma!“, wiederholt Zach aus der Tiefe heraus hustend. „Unser Harry, wie er leibt und lebt. Achtundvierzig Jahre alt und immer noch so verklemmt wie mit sechzehn. Kannst du etwas für mich tun?“, fragt er ohne Überleitung.
Eine Stunde später steht Feldkamp am provisorischen OP-Tisch, der eigentlich ein verlängerter, hölzerner Küchentisch ist. Vorsichtig hebelt er die Muskulatur und die Gefäße am rechten Hals zur Seite und setzt die beiden Haken der Assistenzärzte an der richtigen Stelle an. Der sechste Halswirbel ist völlig zertrümmert. Der Bluterguss reicht weit nach hinten und dehnt sich unter dem sogenannten Vorderen Längsband halbmondförmig in den Rückenmarksraum hinein. Feldkamp bringt zwischen den beiden fünften und siebten Querfortsätzen je einen Extraktor an, welche den darüber- und darunterliegenden Wirbelkörper nach oben bzw. nach unten drücken und so das vordere Längsband straffen. Durch das Straffen des Längsbandes wird das Rückenmark entlastet.
Unter den Augen iranischer Kollegen, die eigens für diese Operation angereist sind, schält er die Trümmer des geborstenen sechsten Wirbelköpers sowie die obere und untere Bandscheibe aus ihren Lagern aus. Zachs Halswirbelsäule hat nun keine Verbindung mehr mit der Brustwirbelsäule. Der Kopf wird in diesem Bereich nur noch vom Muskelmantel gehalten. Die geringste Bewegung könnte Zach enthaupten. Die Ärzte um ihn herum stöhnen hinter ihrem Mundschutz auf.
Die Türe wird aufgerissen. Lärm, Schreie und Dieselgeruch dringen in die Hütte. Ärzte und Assistenten zucken zusammen und scharen sich um den zum Operationsgebiet umgebauten Küchentisch. Jemand ruft: „Schützt den Sardar! Schützt den Helden!“ Feldkamp klopft einem der Assistenten mit dem Skalpell auf die Finger, weil diese schreckhaft zittern. Feldkamp ist fokussiert und bekommt von alldem nichts mit.
Schließlich bringt er noch das Knochenmark des zerstörten Wirbelköpers in die obere und in die untere Wirbelkörperbegrenzung von Nummer fünf und sieben ein, damit der Titandistraktor hier schneller einwachsen kann. Dann zwängt er den Distraktor in die Lücke zwischen dem fünften und dem siebten Halswirbelkörper und pumpt ihn, wie bei einem Wagenheber, in die entsprechende Länge. Endlich verhaken sich Zangen in der Unterkante des fünften und der Oberkante des siebten Halswirbelkörpers. Auf die künstliche Verplattung zur zusätzlichen Stabilität muss er verzichten, da im Operationsset die Platte fehlte.
Er blickt auf die Uhr. Viereinhalb Stunden Operationszeit. Deutlich länger als zu Hause. Seine OP-Kleidung ist durchgeschwitzt, sie sind hier in der Wüste und es gibt keine Klimaanlage. Das Zunähen des Operationsgebietes überlässt der den iranischen Kollegen, die diese niedere Kärrnerarbeit aber nicht gewohnt sind. Feldkamp bemerkt erst an der ablehnenden Haltung seiner Kollegen, dass er auf fremdem Boden operiert hat. Im Iran ist der Arzt noch ein Gott, den man nicht mit dem Zunähen des Operationsgebietes behelligt. Wie nach einem überlangen Film versucht er seine Sinne wieder an der Wirklichkeit auszurichten. Er muss schnellstens zurück, denkt er.
„Es ist alles in Ordnung“, sagt Thor ungewohnt freundlich. „Brauchst erst nächste Woche zurück in Deutschland zu sein.“
Er deutet auf eine kleine Kammer, in der ein Bett für Feldkamp gerichtet ist. Ohne sich auszuziehen fällt Feldkamp auf das Feldbett und ist mit dem Aufschlagen des Kopfes auf dem Kissen eingeschlafen.
Feldkamp fühlt sich wunderbar erfrischt, als er nach zwölf Stunden Schlaf Zach in seiner Einzelzelle besucht. Über das untere Bettende ragen Zachs Füße heraus. Die linke Kleinzehe fehlt. Jeder Quadratzentimeter an Zach ist Erinnerung.
„Nicht jede Zelle ist ein Gefängnis“, krächzt Zach und versucht ein Lächeln, das aber nicht recht gelingt.
Ja, Zachs Gesichtszüge sind gealtert, stellt Feldkamp fest. Falten wie Canyons durchziehen die Wangen, obwohl Zach weder trinkt noch raucht. Vielleicht ist vorzeitiges Altern der Preis der Angst eines Waffenhändlers, denkt Feldkamp. Oder es sind die Frauen, die ihn fertigmachen?
Er weiß von Zachs vier Frauen. Seine Hauptfrau Swita lebt in Teheran. Sie ist die Tochter eines ehemaligen Ministers des Schah-Regimes. Eine Nebenfrau lebt in Marrakesch, die andere in Algier. Nur Feldkamp kennt Zachs vierte Frau, die mit ihren drei Söhnen in Deutschland lebt. Nicht einmal Swita weiß von ihr.
„Sechs Wochen Bettruhe“, sagt Feldkamp kurz angebunden.
„Wie geht es unserer seidenweißen Pergola? Muss sie den Abstand zwischen Mund und Flaschenöffnung immer noch mit Daumen und Zeigefinger abmessen, wenn sie aus der Flasche trinken will?“
„… und später nur mit Halskrause, ein bis eineinhalb Monate lang.“
„Dir steht das Alter jedenfalls besser als mir. Aber sicher wissen das deine OP-Schwestern und Ärztinnen auch besser als ich, gell?“
„Bevor du die Halskrause ablegst, will ich dich nochmal sehen.“
„Können wir eigentlich noch normal miteinander reden oder behalten wir das Rückwärtsgequatsche bei, Harry?“, hustet Zach wütend.
„Ich will nur weg von hier.“
„Zweihunderttausend Dollar, wenn du bis Sonntag bleibst. Damit hast du die Spielschulden deines Sohnes Tankred mit einem Schlag vom Hals.“
Feldkamp zieht scharf die Luft ein. Er riecht Medikamente, Urin und Holz. Sonntag wäre übermorgen. Woher weiß Zach von Tankreds Spielschulden? Egal, er kann für zweihundert Riesen einen Tag seines Lebens opfern. Genau genommen wäre es eine angemessene Bezahlung für eine abgewendete Querschnittslähmung und den Fick mit meiner Frau, denkt er. Er kann sich ein Leben ohne Tankreds Spielschulden schon nicht mehr vorstellen. Unter jedem Dach ein Ach …
„Du kannst mir das mit Pergola nicht verzeihen“, stellt Zach betrübt fest.
„Würdest du mir dasselbe mit Swita verzeihen?“
„Och Harry, die Polygamie hat so ihre speziellen Vorteile. Da fällt so ein falscher Stecker in der Büchse kaum auf. Du kannst dir übrigens zu den zweihunderttausend noch eine Million dazuverdienen, wenn du mir bei einem Transport hilfst“, sagt er verschwörerisch, als ginge es um die Lieferung wertvoller antiquarischer Bücher. Feldkamp liebt diese alten Schinken, das weiß er.
Zachs Stimme wird heiser, weil Feldkamp den Nervus Recurrens während der Operation malträtiert hat. Geschieht ihm recht, denkt der.
„Du bist so ekelhaft wie immer. Ich will gar nicht wissen, worum es geht. NEIN.“
„Worum?