Mit blossen Händen. Wolf-Rainer Seemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf-Rainer Seemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094268
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Amerikaner! Jetzt wird es doch ein Scheißtag, denkt sie und legt ihre Stirn in fragende Falten. Sie weiß, sie sollte das unterlassen. Wenn man 36 Jahre alt ist, bügelt die Tagescreme Gesichtsfalten nicht mehr so einfach weg.

      „Larry Newman, NSA Baltimore“, beantwortet Nikodem ihr Mienenspiel.

      Um acht Uhr morgens auf Englisch zu schalten, fällt den meisten Deutschen schwer. Nelly van Eid stürmt in ihr Büro und hebt den roten Hörer ab. Ausgerechnet die NSA! Die hören einen ab, wenn man nur an sie denkt.

      „Nelly?“, fragt Newman. „Listen, wir haben bei euch was gutzumachen. Unsere Freunde vom Sinai werden in wenigen Minuten die unterirdischen Atomanlagen bei Fordo sprengen. Interessiert?“

      Sprengen? Atomanlagen? Fordo? Nelly van Eid muss sich sammeln.

      Niemand im BND ist so dreist, ein amerikanisches Angebot abzulehnen. Nikodem hat bereits sämtliche Monitore angeschaltet. Auf den beiden mittleren werden Wolken übertragen. In der Mitte senkt sich langsam die Spitze eines Flugkörpers ins Bild. Eine andere Kameraeinstellung zeigt die Region der Übertragung: die östlichen Ausläufer des Zagrosgebirges, südlich der heiligen Stadt Ghom, und immer größer werdend das Wüstennest Fordo.

      ***

      Am frühen Morgen desselben 18. Januar fährt der Chef des Isfahan Forschungs- und Produktionszentrums für Kernbrennstoff (NFRPC) General Hassan Mokaddam die gut ausgebaute Autostraße von Isfahan in Richtung Süden. Er biegt etwa 20 Kilometer südlich der heiligen Stadt Ghom in eine nicht ausgeschilderte Straße ab. Diese endet in einer herzförmigen Schleife, die zwei Tunneleingänge miteinander verbindet und in einem Bogen wieder zum Zubringer zurückführt. Neben ihm sitzt ein etwa zwei Meter großer Mann Ende vierzig, er trägt einen Kaftan. Trotz seiner Kleidung ist er unschwer als Mitteleuropäer zu erkennen. Selbst der General auf dem Fahrersitz rückt ein wenig von ihm ab. Der Mann mit den eng aneinanderliegenden Raubtieraugen ist ihm unheimlich. Wolfgang Zach ist Waffenhändler und der einzige, der mit der großen Kugel umgehen kann. Anders als sein Name sagt, ist Zach Schiit – als Katholik wäre ihm niemals das Vertrauen entgegengebracht worden, das ein Mann mit seinen Ambitionen benötigt. Und Religion spielt für Gott ohnehin keine Rolle. Das war schon immer Zachs Meinung. Anders als sein Berufsbild erwarten lässt, ist er hochangesehen: Er hat als zwanzigjähriger Spion den Iran vor Saddam Hussein gerettet.

      Trotz Rang und Ansehen der beiden Männer wird der Wagen vom Sicherheitsdienst der Anlage eingehend überprüft. Schon von Weitem sieht der General, wie Babak Mohammadi mit einem Papier winkt. Mohammadi ist für die fünfzehntausend Zentrifugen zuständig, die das gasförmige Uran 235 von seinen übrigen Bestandteilen lösen sollen. Eine Herkulesarbeit! Die meisten Zentrifugen sind veraltet, weil die deutsche Firma Siemens Geschäfte mit dem Iran fürchtet. Barak Obama hat mit dem Rauswurf jener ausländischen Firmen aus den USA gedroht, die das Embargo umgehen.

      „Was ist?“, fragt der General mürrisch.

      „Mit den Umdrehungsgeschwindigkeiten der Zentrifugen stimmt etwas nicht“, antwortet Mohammadi.

      Der General reißt dem Wissenschaftler die Unterlagen aus der Hand. Er kann keine Ungereimtheiten finden.

      „Das ist es ja gerade“, jammert Mohammadi. „Die Computer liefern uns normale Umdrehungsgeschwindigkeiten von 1064 Umdrehungen pro Sekunde. Das kann aber nicht stimmen, weil kaum angereichertes Uran anfällt.“

      „Schauen wir uns die Sache persönlich an“, sagt General Mokaddam gewichtig.

      Als die drei Männer die Zentrifugenplantage tief im Inneren des Berges betreten, hören sie bereits die ausgeleierten Maschinen an ihren Wandungen schaben. Einzelne beginnen, sich aus ihren Halterungen zu lösen. Hunderte von Mitarbeitern haben alle Hände voll zu tun, die Zentrifugen in Gang zu halten.

      „Passt hier denn niemand auf?“, schreit Mokaddam entsetzt. „Schnell, alles radioaktive Material nach Natanz bringen. Wie viel haben wir?“

      „Dreißig Kilo zu 36 % angereichert.“

      „Weg damit nach Natanz!“

      Als er die Katastrophe genauer untersucht hat, hält er den Atem an. Die Zentrifugen laufen mit Sicherheit schneller als 1100 Umdrehungen. Die Computer zeigen jedoch normale Umdrehungen von 1064. Einige Zentrifugenhülsen beginnen bereits, sich wegen der Hitze zu verfärben.

      „Nach Natanz?“, fragt Zach. „Vor zwei Jahren hat Stuxnet dort mehr als sechzehntausend Computer zerstört! Die halbe Anlage ist dabei hochgegangen!“

      „Weiß ich. Aber das hier wird auch hochgehen! In Natanz hat es ähnlich begonnen“, schreit Mokaddam.

      „Und die Kugel?“, fragt Zach.

      „Weiter hinten im dritten Seitenschacht rechts“, sagt der General und wirft Zach einen elektronischen Türöffner zu.

      ***

      „Drohne setzt Peilung ab“, hören die Chefs der Abteilung PW des BND in Pullach eine Stimme aus dem Off.

      Nelly van Eids Augen springen von links nach rechts und zurück. Sie versucht die Bilder in einen Kontext zu bringen. Amerikaner? Israelis? ... bombardieren das Gebirgsmassiv von Fordo. Sie sieht Nikodem fragend an, der aber nur mit den Schultern zuckt.

      „Larry, das bringt nur Verwicklungen. Wisst ihr, was ihr da tut?“, ruft sie beschwörend in ihr Head Set.

      „Nelly, lass uns einmal, ein Mal eure ewige Bedenkenträgerei vergessen! Ein Mal!“, schreit Newman zurück. „Die Israelis zerstören die größte Uran-Anreicherungsanlage des Iran und machen mit einem Schlag sämtliche iranischen Atombombenpläne platt. Die Israelis mussten wochenlang warten, bis alle Zentrifugen infiziert waren. Heute geben sie ihnen den Gnadenstoß. Und du fragst mich, ob die wissen, was sie tun! Das Zerstören der Elektronik allein genügt nicht, das hat uns Natanz gelehrt. Wir müssen zusätzlich die Infrastruktur zerstören.“

      „Aber die Menschen …“

      „Was für Menschen?“

      Das Bild vor ihr schaltet um. Man erkennt zwei Ansichten. Der linke Monitor zeigt die Nachuntenoptik einer Drohne, im rechten sieht man die Geradeausoptik eines Miniaturmissiles im Gleitflug. Im Blick nach unten erkennt man die größer werdende Schleife einer Autobahn, die sich in vier Zubringer aufzweigt, die in die Ausläufer des Zagrosgebirgsmassivs hineinführen. Die Autobahn mündet in Richtung Süden in die Nord-Süd-Verbindung zwischen Teheran und Isfahan.

      Nikodem steht neben Nelly van Eid. Beide verfolgen heftig atmend das Geschehen.

      „Das hat doch keinen Zweck!“, stöhnt Nikodem. „Das Gebirgsmassiv ist viel zu dick. Da kommt nicht einmal eine Atombombe durch!“

      „Wait a moment!“, sagt Larry Newman mit hartem Lachen.

      Wenig später sieht man an den Bildrändern, wie kleine Seitenflügel des Flugkörpers aufklappen. Er scheint auf der Stelle zu schweben. Im Inneren wird das Ortssignal berechnet, das von der Drohne stammt. Urplötzlich wacht das zögernde Kleingeschoss auf. Es schießt nach vorn. Sucht sich die einprogrammierte Lücke im Berg. Rast über Menschen hinweg, deren Erstaunen man nur ahnen kann. Hält auf eine getarnte Bergöffnung zu und stößt in sie hinein und – das Monitorbild wird weiß.

      ***

      Ein schriller Pfeifton unterbricht Zach und General Mokaddam. Mohammadi schreit ins Funkgerät.

      „Ein Kleinflugzeug!“

      „Unseres?“

      „Keine Ahnung. Eine Drohne vielleicht. Scheint mit dem Mist da zusammenzuhängen!“, ruft er und macht eine hilflose Rundumbewegung. In den Pulk der Mitarbeiter kommt Bewegung. Der ungewohnte Pfeifton ängstigt sie.

      „Abschießen! Und unser Held soll die Kugel retten!“, befiehlt Mokaddam militärisch knapp und deutet auf Zach, der sogleich mit wehendem Kaftan nach hinten eilt.

      Der Lärm wird infernalisch. Die Zentrifugenhülsen scheinen einen eigenwilligen Bauchtanz zu beginnen. Mokaddams Halsvenen schwellen an. Er hält